Krise der Sozialdemokratie: Von wegen von gestern

Nr. 23 –

Fast scheint es, als neige sich das 20. Jahrhundert erst jetzt seinem Ende zu. Als verschwände die Idee der sozialen Gerechtigkeit, das Versprechen einer Gesellschaft, an der alle die gleiche Teilhabe haben: umgesetzt nach dem Zweiten Weltkrieg im Aufbau des Sozialstaats. Zumindest wirken die Parteien, die dieses Versprechen so lange programmatisch vertreten haben, nur noch wie ein Schatten ihrer selbst.

In Deutschland rutschte die SPD bei der Europawahl unter zwanzig Prozent. Die Parteivorsitzende Andrea Nahles ist zurückgetreten, eine Erneuerung der Partei liegt in weiter Ferne. In Frankreich ist der einst stolze Parti Socialiste sogar unter zehn Prozent gefallen, in Grossbritannien fehlt Labour im Brexit-Drama eine internationale Perspektive, in Italien kommt der Partito Democratico kaum gegen einen immer aggressiver auftretenden Nationalismus an. Selbst jene Linken, die den sozialdemokratischen Reformismus schon immer als Teil des Problems kritisierten, dürften kaum Freude empfinden. Die Lage ist dramatisch.

Exemplarisch für die Krise der Sozialdemokratie ist die SPD. Seit Gerhard Schröder die Partei auf den «dritten Weg» brachte, geht es mit ihr nur noch abwärts. Die Agenda 2010, mit der Schröder eine Liberalisierung der Wirtschaft durchsetzte, brachte Sozialabbau und eine Ausbreitung des Niedriglohnsektors mit sich. Die SPD hat sich von dieser Preisgabe der Idee sozialer Gerechtigkeit nie erholt. Ihre hermetische Organisation verhinderte zudem, dass die Partei Impulse von sozialen Bewegungen aufnahm.

Bemerkenswert in dieser Situation ist der Zustand der SP in der Schweiz. Als eine der linksten sozialdemokratischen Parteien in Europa ist sie stabil. Sicher, die SP war in diesem stockbürgerlichen Land stets weit von einer Mehrheit entfernt und konnte deshalb profilierter auftreten. Doch machte sie auch einiges richtig: Just in den Jahren, in denen Schröder Tieflöhne ermöglichte, lancierten die Gewerkschaften in der Schweiz Kampagnen für Mindestlöhne, die dank Gesamtarbeitsverträgen in vielen Branchen Realität wurden. Die SP unterstützte sie.

Auch sonst zeigte sich die Partei oft anschlussfähig für soziale Bewegungen, sei es die Frauen- oder die Umweltbewegung. Die grünste Partei direkt nach den Grünen im Parlament ist die SP und nicht die GLP, dies zur Erinnerung für die Wahlen im Herbst. Dank der Jusos gelang der Partei zudem eine personelle Erneuerung.

All das gilt es zu bedenken, wenn derzeit einige liberale ExponentInnen die Partei verlassen und ihr ideologische Verbohrtheit vorwerfen. Gerade weil die SP von links angetrieben wurde, hat sie mitgeholfen, die soziale Gerechtigkeit durch die Zeit zu retten. Im Interesse der Leute mit den tiefen und mittleren Einkommen – auch jener, die als MigrantInnen häufig nicht stimmberechtigt sind.

Die Linke wird von den bürgerlichen KommentatorInnen gerne auf die SP reduziert, in der sich angeblich ein linker und ein rechter Flügel bekämpfen. Dabei ist sie weit mehr: eine vielgestaltige Bewegung aus Parteien, Gewerkschaften und NGOs, Solidaritätsnetzen, Kulturlokalen und Splittergruppen. Eine Bewegung, die die SP immer auf die sozialen Realitäten verpflichtet und sie zu Recht auch immer wieder für ihre Mitverantwortung kritisiert, etwa für die repressive Flüchtlingspolitik.

Ob in der Schweiz oder in Europa, die Herausforderung der linken Bewegungen besteht darin, wie sie ein Denken in sozialen Kategorien ins 21. Jahrhundert übersetzen. Gerade bei der Minderung der Klimakatastrophe, in der sich die globalen Verteilungskonflikte zuspitzen werden, ist ein solches Denken dringend nötig. Ein gutes Beispiel für diese internationale Solidarität ist die Konzernverantwortungsinitiative, die Unternehmen auf die Einhaltung von Menschenrechten verpflichtet. Von den Parteien in Bundesbern – auch das zur Erinnerung für den Herbst – unterstützen sie die Grünen und die SP.