Protest und Konkordanz Ein frischer Wind blies vor zwanzig Jahren durch die Fussballstadien – heute sind die Ultras die grösste Subkultur der Schweiz. Und routiniert darin, für Empörung zu sorgen.

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Die Partie, die am 12. Mai dieses Jahres den Abstieg des Grasshopper Club aus der höchsten Schweizer Liga besiegelte, wurde nicht zu Ende gespielt. Beim Stand von 4 : 0 für den FC Luzern drangen GC-Fans aus dem Gästesektor zum Spielfeldrand, um dem «Trauerspiel ein noch traurigeres Ende zu setzen», wie es die GC-Fanplattform «Sektor IV» kurz darauf in einem Communiqué lakonisch formulierte. Die Polizei marschierte auf und positionierte sich in grosszügigem Sicherheitsabstand, GC-Offizielle versuchten zu verhandeln, die Fans verlangten die Trikots der Spieler, weil diese der Klubfarben nicht würdig seien. Es kam zu einer kurzen Rangelei zwischen einem Fan und dem dunkelhäutigen Spieler Aimery Pinga, dann war Schluss.

Weil einer der Wortführer der GC-Fans in Luzern ein szene- und polizeibekannter sogenannter Nazihooligan war und Pinga bei der Rangelei als «Nigger» beschimpft worden sein soll (die Quelle hierfür waren anonyme «Ohrenzeugen» im «Blick»), wurde aus dem Vorfall in Luzern rasch eine Geschichte über rassistische und rechtsextreme Umtriebe in den Fankurven. Es spricht jedoch vieles dafür, dass wir es hier nicht mit Ausschreitungen eines rechten Mobs zu tun hatten, sondern mit einem fast drehbuchartigen Abspulen einer in Fankreisen etablierten Protestfolklore.

Seit rund zwanzig Jahren orientieren sich alle grösseren Schweizer Kurven an der Fankultur der Ultras. Das hat, bei allen lokalen Eigenheiten, zu einer Homogenisierung von Ritualen, Regeln und Ausdrucksformen geführt. Gemeinsames Ziel einer Kurve ist Geschlossenheit, um möglichst einheitlich und damit mächtig auftreten und handeln zu können. Über die Jahrzehnte haben sich in den einzelnen Fanszenen kollektive Identitäten herausgebildet, die ein Gemeinschaftsgefühl ermöglichen, das weit über den Fussball und den Spieltag hinausgeht.

Fantum als Lebensart

Wenn die Fans des FC Basel mit einem gigantischen autonomen Fest das 125-jährige Bestehen ihres Klubs feiern, dafür Fährenfahrten, Tanztheater, Ausstellungen, Umzüge und Konzerte organisieren und die halbe Stadt miteinbeziehen; wenn die Fans des FC Zürich zum zehnten Jahrestag des Meistertitels vom 13. Mai 2006 ein dickes Buch herausbringen und ins Volkshaus zur Feier laden; oder wenn die Fans der Grasshoppers für ein Legendenspiel die Hardturm-Ruine in ein Kleinstadion verwandeln und ehemalige Spieler aus Schweden einfliegen – dann wird deutlich, dass hier Hunderte aus der Schwäche für einen Fussballklub eine Lebensart gemacht haben. Ultra-orientierte Fankurven sind heute womöglich das grösste und auffälligste subkulturelle Phänomen überhaupt. Durch die vielseitigen Möglichkeiten der Partizipation und das Spiel mit Normverletzungen und Grenzüberschreitungen stellen sie für junge Männer ein attraktives Angebot dar.

Jede Fankurve hat ihre Fraktionen, und die Bandbreite politischer Einstellungen ist maximal. Trotzdem dringt kaum je ein Konflikt nach aussen. «Geg alli Spaltige uflehne», singt der Reggaesänger und FCZ-Fan Elijah in seinem Song «Nie usenand gah». Die Einbindung unterschiedlichster Gruppen und Haltungen folgt einer Art Kollegialitätsprinzip: Verhandelt und gestritten wird intern, wichtig sind Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit nach aussen. In den Themen, die Öffentlichkeit und Politik regelmässig beschäftigen und empören – Pyrotechnik und Gewalt –, herrscht insofern Konsens, als Erstere in den Kurven völlig unumstritten ist (und der Einsatz von Böllern in aller Regel vermieden wird) und Letztere nicht kategorisch abgelehnt, sondern stets situativ beurteilt wird; der Illusion einer gewaltfreien Fanszene gibt sich kaum jemand hin.

Aggressiv alarmbereit

Die «einzelnen destruktiven Elemente», die Behörden und Politik gern aus dem Verkehr ziehen möchten, gibt es deshalb so nicht. Es ist die heutige, fast ausschliesslich männliche Fankultur als ganze, die problematische Züge hat: wenn etwa das rituelle Dissen mittels Transparenten wie zwischen Winterthur und Schaffhausen dazu führt, dass eine sexistische mit einer gewaltverherrlichenden misogynen Botschaft beantwortet wird, wenn sich der Wettstreit um die Hoheit im Zürcher Fussball zu einem urbanen Kleinkrieg ausweitet, der auch vor Kindern im falschen Trainingsanzug nicht haltmacht, oder wenn Kritik von aussen mit Drohung und Einschüchterung zum Verstummen gebracht wird. Das Gefühl einer permanenten Bedrohung durch behördliche und polizeiliche Repression, durch gegnerische Fans sowie durch überbordende Kommerzialisierung im Profifussball hat zu einer aggressiven Alarmbereitschaft geführt, sodass sich schon seit Jahren weder Polizei noch private Sicherheitsdienste mehr in die Fankurven begeben.

Vereine und Liga wissen hingegen genau, was sie an diesen Fans haben. Ihre Gesänge, ihre Fahnen, ihre Choreografien liefern Bilder und Töne, ohne die sich der Schweizer Fussball als Produkt kaum vermarkten liesse. Und sie wissen, wie sich diese Kurven verhalten, wenn sie glauben, eine Mannschaft zerreisse sich nicht genug für ihre Farben: in aller Regel betont wütend.

Die Verortung des Vorfalls in Luzern innerhalb des Problembereichs Rassismus im Fussball mag – trotz dünner Beweislage im Fall Pinga – verständlich sein, hatte doch die grösste Fangruppierung von GC zuvor bei einem Heimspiel bereits prominent eines verstorbenen Chemnitzer Neonazis und Fussballfans gedacht. Sie blendet aber aus, dass es bei den Abstiegen von St. Gallen 2008, des FCZ 2016 und von Lausanne 2018 zu ähnlichen und mindestens so gravierenden Vorfällen gekommen war. Das Verhalten der GC-Fans in Luzern war deshalb abzusehen: als Facette einer Fankultur, die genauso bunt, laut, kreativ und selbstbestimmt ist wie präpotent, bedrohlich und machoid. Die 57 Stadionverbote, die die Swiss Football League nach dem Spiel in Luzern aussprechen will, werden daran wenig ändern.

Pascal Claude schrieb für die WOZ von 2006 bis 2008 die Fussballkolumne «Knapp daneben», von der eine Auswahl 2009 als Buch erschien.