Durch den Monat mit Marco d’Eramo (Teil 4): Ist authentisches Reisen heute noch möglich?

Nr. 35 –

Der italienische Journalist Marco d’Eramo denkt mit Adorno über Tourismus nach – und erklärt, warum die gesellschaftliche Arbeitsteilung eine gute Sache ist.

«Hinter dieser ganzen Entfremdungskritik steht die Auffassung, dass man unbedingt man selbst sein müsse. Warum sollte das so sein?» Marco d’Eramo in seiner Wohnung in Rom.

WOZ: Herr d’Eramo, in Ihrem Buch «Die Welt im Selfie» spielen philosophische Überlegungen eine grosse Rolle, etwa hinsichtlich der Sehnsucht nach unberührten Orten.
Marco d’Eramo: Wann genau spricht man überhaupt von Authentizität? Wenn ich mir etwas koche, frage ich dann etwa: Ist das, was ich mir hier zubereite, wirklich authentisch? Wohl kaum. Man spricht in der Regel immer dann von Authentizität, wenn man deren Abwesenheit spürt. Deswegen benutzen auch die Faschisten diesen Begriff so gerne, weil sie damit ausdrücken wollen, dass ihre nationale Identität angeblich bedroht sei. Es gibt ein wunderbares Buch von Adorno, «Jargon der Eigentlichkeit» …

… eine Streitschrift gegen den Philosophen Martin Heidegger.
Genau, und ich folge Adorno in seiner Kritik eines Denkens, das das Ursprüngliche zum Fetisch macht. Das Problem besteht gerade darin, dass es so etwas wie Authentizität gar nicht gibt: Es ist immer eine Fiktion.

Das klingt ziemlich postmodern.
Mag sein. Aber der springende Punkt ist: Diese Fiktionen entwickeln eine reale Wirksamkeit, wie es der von mir schon an anderer Stelle erwähnte Benedict Anderson in Bezug auf nationale Gemeinschaften gezeigt hat. Nehmen Sie Indonesien: Das ist ein absurdes Gebilde mit 5000 Sprachen und mit Grenzen, die vom niederländischen Kolonialreich gezogen wurden. Trotzdem entwickelten sich dort, nachdem Indonesien die Unabhängigkeit erlangt hatte, ultranationalistische Kräfte. Es handelt sich also bei Nationen um Erfindungen, für die manche töten – Nationen sind blutige Fiktionen.

Anderson spricht von «imagined communities», imaginierten Gemeinschaften.
Ja, und was er damit meint, lässt sich auch am Beispiel der Migration deutlich machen: In den Vereinigten Staaten beispielsweise haben die Behörden für die statistische Erfassung der Bevölkerung die Kategorie «Hispanic» erfunden. Dabei handelt es sich nicht um eine tatsächlich existierende Ethnie oder Sprache. Aber nachdem die Bürokratie diese Kategorie erfunden hatte, entfaltete sie reale Wirksamkeit – und die Migranten, die sich zunächst als Mexikaner, Puerto-Ricaner oder Argentinier verstanden hatten, begannen damit, sich selbst als «Latinos» zu definieren und sogar stolz darauf zu sein.

Es sind auch viele Italiener in die USA emigriert.
Für die gilt dasselbe: Sie wanderten nicht als Italiener aus, sondern als Sizilianer oder Neapolitaner – jemand, der aus Udine stammte, war keineswegs der Ansicht, dass er denselben Ursprung hat wie einer, der aus Palermo kam. Doch durch die Migration in die USA wurden sie gleichsam italienisiert. Jedenfalls ist das mit der Authentizität eine verzwickte Angelegenheit. Alle diese Theorien über Authentizität stehen in Zusammenhang mit philosophischen Ansätzen, die den Anfang als etwas Privilegiertes betrachten: Das, was ursprünglich ist, soll auch etwas Besseres sein. Aber warum sollte das so sein? Vielleicht ist ja der Fortschritt, der über den Ursprung hinausführt, sogar viel erstrebenswerter.

Sie behandeln auch die Tourismuskritik des deutschen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger, der meinte, dass in einer entfremdeten kapitalistischen Gesellschaft auch nur entfremdete Formen der Erholung existieren.
Ja, und meine Antwort auf Enzensbergers These lautet: Na und? Was folgt daraus? Hinter dieser ganzen Entfremdungskritik steht die Auffassung, dass man unbedingt man selbst sein müsse. Warum sollte das so sein? Ich will nicht ich selbst sein müssen, ich will mich sogar entfremden!

Das müssen Sie erläutern.
Die traditionelle Linke hat immer angenommen, man könne klar sagen, was jemand wirklich will. Ich finde Marx’ Aussage befremdlich, dass man sich ein nichtentfremdetes Arbeiten so vorstellen müsse, dass man morgens Jagen geht, nachmittags fischt und abends nachdenkt. Das ist lächerlich. Ein guter Pianist will sich spezialisieren, er will sich gar nicht in allen möglichen Hinsichten entfalten. Das Problem mit der Arbeitsteilung und der Spezialisierung liegt vielmehr darin, dass sie in der bestehenden Gesellschaft von aussen erzwungen wird und nicht Resultat einer freien Wahl ist.

Um auf den Tourismus zurückzukommen: Ein Backpacker etwa, der auf Pauschalurlauber herabblickt, verstrickt sich also hoffnungslos in Widersprüche?
Seit den Anfängen des Tourismus beharren die Leute, die unterwegs sind, darauf: Nein, nein, ich bin kein Tourist, ich bin ein Reisender – als wäre das eine die authentische, das andere die entfremdete Form des Tourismus. Jeder Tourist verachtet andere Touristen und träumt davon, an einem Ort zu sein, wo es keine anderen Touristen gibt. Letztlich ist der Tourismus also eine kollektive Aktivität, die die Leute zugleich voneinander trennt.

Während seines Studiums in Paris erlebte Marco d’Eramo (geboren 1947) Frankreichs Theorieprominenz hautnah: Er besuchte Vorlesungen und Seminare von Roland Barthes, Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Sein Buch «Die Welt im Selfie» ist 2018 bei Suhrkamp erschienen.