Wirtschaftswachstum: Hauptsache mehr – egal wie und warum

Nr. 35 –

Warum muss die kapitalistische Wirtschaft wachsen? Ökonom Mathias Binswanger erklärt vieles und übersieht doch etwas Entscheidendes.

«T Wirtschaft mues wachse, t-t-t Wirtschaft mues wachse!» Im wunderbar absurden Stück «Kapitalismus Kolleg» haut die Berner Band Jeans for Jesus den ZuhörerInnen diesen Satz an den Kopf – im Stakkato, gleichzeitig aggressiv und lakonisch. Ja, die Wirtschaft muss wachsen, das lernt jeder Wirtschaftsgymnasiast, das akzeptiert fast jede Politikerin, die ernst genommen werden will. Aber warum eigentlich?

Ökonom Mathias Binswanger, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, hat ein Buch zu genau dieser Frage geschrieben. Er führt damit eine Arbeit weiter, die schon seinen Vater, den 2018 verstorbenen St. Galler Professor Hans Christoph Binswanger, jahrzehntelang beschäftigte.

Es geht nicht um Moral

Warum muss die Wirtschaft wachsen? Mathias Binswanger identifiziert vier Merkmale, die kapitalistische Wirtschaften ausmachen: Sie sind Geldwirtschaften – das Ziel der Unternehmen besteht darin, möglichst hohe Gewinne zu erwirtschaften. Sie sind Marktwirtschaften, in denen Unternehmen konkurrieren. Eng mit dem Wettbewerb verbunden ist ein Zwang zur Innovation: Jedes Unternehmen versucht, neue und bessere Produkte zu entwickeln. Und «in kapitalistischen Wirtschaften finanzieren Unternehmen Investitionen zu einem grossen Teil aus zurückbehaltenen Gewinnen und müssen auch aus diesem Grund Gewinne machen». Sein Fazit: «Gewinn, Markt, Wettbewerb, Innovation, Investitionen und deren Finanzierung bedingen sich gegenseitig, damit eine kapitalistische Wirtschaft funktioniert, was wiederum Wirtschaftswachstum zur Folge hat.»

Binswanger argumentiert stringent – und nah bei Karl Marx: Es geht nicht um den Willen Einzelner, es geht nicht um Moral, Gier oder «böse Kapitalisten», sondern um ein System, «welches uns zu permanentem Wachstum zwingt». Nichts spreche dafür, dass der Mensch immer gieriger geworden sei: «Unersättlichkeit ist für die kapitalistische Wirtschaft überlebensnotwendig.» Gleichzeitig helfe Wachstum, den Sozialstaat auszubauen und Verteilungskämpfe zu vermeiden – wie auch Jeans for Jesus bemerken: «Bi gnue Lohn und AHV ischs egau, we dr Chef dr Räscht verdient.»

Ist es möglich, das Wachstum kontrolliert zu stoppen, wie es der Décroissance-Bewegung vorschwebt? Binswanger findet dafür keine Hinweise. Er unterscheidet zwischen dem Wachstumszwang, der sich aus den genannten vier Merkmalen ergibt, und zusätzlichen Wachstumstreibern wie Börse, Finanz- und Immobilienmarkt oder Staatsverschuldung. Indem man diese Treiber eindämme, lasse sich der Wachstumszwang mildern, aber nicht aufheben – zu einem ähnlichen Fazit kam auch schon Binswanger senior.

Der Autor zerpflückt weitere Hoffnungsprojekte von WachstumskritikerInnen, etwa das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Es funktioniere «nur so lange, wie die meisten Menschen weiterarbeiten wie bisher». Die Roboter für uns arbeiten zu lassen, wie es oft propagiert wird, sei keine Option: Automatisierung verbilligt die Produktion – damit sinkt aber auch die Wertschöpfung. «Damit ein ausreichendes BGE über eine Wertschöpfungsabgabe finanziert werden kann, braucht es weiterhin Wirtschaftswachstum.» Dieses komme nur zustande, wenn der Konsum weiter ansteige: «Die Finanzierung des BGE erfordert als Bedingung gerade die Wirtschaft, von welcher es uns eigentlich befreien soll.»

Binswanger erklärt auch das Phänomen der «Bullshit-Jobs» und die immer aufgeblähteren Evaluationsabteilungen des New Public Management mit dem Wachstumszwang: Es ist für das Kapital immer noch profitabler, wenn Leute unproduktive Arbeit verrichten, aber mit ihrem Einkommen den Konsum in Schwung halten, als wenn sie weniger arbeiten und bescheidener leben.

Keine ökologischen Grenzen?

Was für ein absurdes, destruktives System! Doch Binswanger zieht diesen Schluss nicht. Der Segen des Wachstums sei bis heute grösser als sein Fluch, schreibt er. Auch die ArbeiterInnen seien «längerfristig» nicht ausgebeutet worden, sondern hätten dank Wachstum vom steigenden Wohlstand profitiert. Er scheint zu glauben, das westeuropäische Modell lasse sich auf die ganze Welt ausdehnen – und übersieht die brutalen Verteilungskämpfe innerhalb der Schwellenländer: Das wachstumsgetriebene Agrobusiness, Bergbau, Industrie und Verstädterung zerstören die Lebensgrundlage von Millionen KleinbäuerInnen, ohne ihnen ein anderes Auskommen zu bieten. Und vor allem unterschätzt Binswanger die Umweltzerstörung, wenn er schreibt: «Im Moment zeichnen sich keine unmittelbaren ökologischen Grenzen des Wachstums ab.» Das stimmt bei den fossilen Energieträgern: «Dank» unkonventioneller Fördermethoden lässt sich viel mehr Öl und Gas gewinnen, als man vor zwanzig Jahren für möglich hielt. Doch die Folgen für das Klima sind dramatisch – und mit ihnen hat sich Binswanger offenbar nicht vertieft beschäftigt. Sonst würde er kaum schreiben, das Wachstum könne noch mindestens bis 2100 weitergehen.

Dennoch: Wer dieses Buch gelesen hat, versteht vieles genauer. Auch wenn es die Frage nicht stellt, die sich aufdrängt: Wie zum Teufel kommen wir hier wieder raus?

Mathias Binswanger: Der Wachstumszwang. Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben. Wiley Verlag. Weinheim 2019. 310 Seiten. 39 Franken