Bericht der Fotografin: Im Lichtschein einer Kurbellampe

Nr. 44 –

Seit zwei Jahren besucht Linda Dorigo regelmässig Jinwar. Mit ihrer Sofortbildkamera dokumentiert sie den Alltag und die Hintergründe der Bewohnerinnen.

Von der türkischen Grenze aus ist das Frauendorf Jinwar zu Fuss in einer knappen halben Stunde erreichbar. Um zum feministischen Dorf im Nordosten Syriens zu gelangen, überquerte ich einen Teil der 800 Kilometer langen Mauer, die Ankara gebaut hat, um Übergänge der mit der PKK verbündeten kurdischen YPG-Milizen zu verhindern. Die PKK gilt in der Türkei als Terrororganisation.

Inzwischen hat diese Mauer eine noch bedrohlichere Bedeutung erhalten. Seit drei Wochen beschränkt sich der Krieg des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen die kurdische Bevölkerung nicht mehr nur auf den Einsatz von Beton und Stacheldraht. Mit der Militäroperation «Friedensquelle» ist die türkische Armee am 9. Oktober in den Nordosten Syriens eingedrungen und hat Städte und Militärstationen bombardiert. Jinwar gehört zu den Dörfern, die bedroht sind.

Im Jahr 2017, als ich «Das Dorf der Frauen» (so heisst es in der Übersetzung aus dem Kurdischen) erstmals besuchte, gab es erst ein paar wenige Häuser. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis die inzwischen gegen fünfzig Häuser gebaut waren – und somit ein Raum zum Leben für Frauen verschiedenster ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeiten zur Verfügung stand.

Am Tag meines ersten Besuchs hatte es geregnet, der Sommerstaub hatte sich in Schlamm verwandelt, meine Schuhe klebten wie ein Saugnapf am Boden. Die drei Frauen Nujin, Dilan und Beriwan liessen mich am Tisch einer improvisierten Küche Platz nehmen. Wir wärmten uns mit einer Tasse Zitronenmelissentee aus dem Dorfgarten auf. Im Lichtschein einer Kurbellampe konnten wir uns gegenseitig ins Gesicht schauen und dabei über die Vision ihres Dorfs reden.

Seither habe ich mehrere weitere Reisen nach Jinwar unternommen. Ich wollte die Geschichten dieser Frauen erzählen, von denen viele beschlossen hatten, eine schmerzhafte Vergangenheit hinter sich zu lassen und hier ein neues Leben zu beginnen. Und so bat ich jede von ihnen, mir über den Gegenstand zu erzählen, mit dem sie besonders verbunden waren, schon bevor sie die Reise nach Jinwar angetreten waren – und den sie deshalb nach Jinwar mitgenommen hatten.

Mit meiner Sofortbildkamera versuchte ich, die Unmittelbarkeit der Begegnungen ungefiltert wiederzugeben. Auf diese Weise lernte ich zum Beispiel Nujin kennen. Die 30-jährige Deutsche hat aus Dortmund das Tagebuch mitgenommen, in das sie dort jede Nacht ihre Gedanken aufgeschrieben hatte. Oder Emira, ebenfalls 30-jährig, die aus einem Dorf unweit von Jinwar kommt: Die Mutter von fünf Kindern hatte eine silberne Halskette dabei – als Erinnerung an die grosse Liebe, die sie nicht heiraten konnte. Sahdia, eine 37-jährige Frau aus dem syrischen Kamischli, die als Geschiedene von ihrer Familie verstossen wurde, konnte sich nicht von dem Pinsel trennen, mit dem sie ihre Augenbrauen malte, die sie sich als Mädchen entfernt hatte – und nicht tätowieren lassen konnte, weil sie kein Geld hatte. Und schliesslich lernte ich auch die 22-jährige Hanan und ihre 40-jährige Mutter Sabah kennen, Araberinnen aus dem syrischen Deir Essor, von wo sie eine Kuh und das Porträt ihres Sohnes beziehungsweise Bruders mitgebracht hatten, der während der Schlacht von Rakka getötet worden war.

Trauer, Einsamkeit, Verzicht: Die Gründe, die sie hierherführen, sind vielfältig. Was allen gemeinsam ist, ist die Abwesenheit eines Werturteils. Auf dieser Insel mitten in einer Gegend voller Verwehungen würde wohl auch niemand über Melka urteilen. Melka, die nicht sagen kann, wie alt sie ist, träumt davon, in ihre geliebten Sindscharberge zurückzukehren – nachdem sie mit ihrer Mutter und ihren fünf Schwestern aus Kobane geflohen ist. Dort war sie von ihrem Onkel missbraucht worden, der sie mit ihrem Cousin verheiraten wollte.

Und dann denke ich an den Moment, als Badra (35) aus Al-Schaddadi von der Weide ins Dorf zurückkommt, wo ihre sieben Kinder auf sie warten. In jedem sieht sie die Liebe ihres Lebens – den Soldaten, der im Krieg im syrischen Al-Schaddadi gestorben ist. Sie hat immer noch sein Handy. Der Klingelton lässt sie glauben, dass er in der Nähe sei.

Linda Dorigo, freie Fotojournalistin in Rom, arbeitet seit 2009 regelmässig im Nahen und Mittleren Osten. 2015 erschien ihr Buch «Bedrohtes Refugium. Christliche Minderheiten im Nahen Osten». In den letzten vier Jahren hat Dorigo an einem Fotoprojekt über die kurdische Identität im Iran, im Irak, in Syrien und in der Türkei gearbeitet.

Alle hier gezeigten Fotos wurden im Herbst 2018 aufgenommen. www.lindadorigo.com

Aus dem Englischen von Cigdem Akyol.