Wef-Winterwanderung: Mit Koalas, Schnaps und Delegierten

Nr. 4 –

Drei Tage zu Fuss nach Davos: Die Winterwanderung für Klimagerechtigkeit hat den Widerstand gegen das Wef wiederbelebt – und zeigt, dass die Bewegung dazugelernt hat.

Alles wird immer idyllischer: Die Winterwanderung kurz vor Davos. Foto: Jacob Balzani Lööv

Es gibt diesen Moment am Dienstag kurz vor 15 Uhr. Die Winterwanderung für Klimagerechtigkeit erreicht Davos Wolfgang, die Passhöhe vor dem See. Die meisten der 500 Wandernden haben den Wanderweg verlassen und gehen ein Stück auf der Hauptstrasse. Neben ihnen stauen sich die Autos: der Wef-Shuttle-Minibus Nummer zwölf, ein Lieferwagen von Kaufmann-Weine, diverse schwarze Limousinen mit Innerrhoder und deutschen Nummern. Trommelnd zieht die pink gewandete Sambaband der Wef-GegnerInnen an den glänzenden Autos vorbei. Da steigt ein Mann im Anzug aus. Er schaut hektisch auf die Uhr und rennt die Autokolonne entlang nach vorne. Sein Jackett verrutscht. Jetzt sieht er aus wie die Parodie eines Managers. Niemand behelligt ihn, aber er unterschätzt wohl die Distanzen: Es sind noch fast vier Kilometer bis ins Zentrum von Davos.

Die Winterwanderung ist spät dran: Sie wird die Kundgebung in Davos Platz, organisiert von der Juso Graubünden und bewilligt für maximal 300 Menschen, verpassen. Wenn man eine Bewegung an ihrem Medienecho misst, ist der heutige Tag sowieso ein Misserfolg: Als ein Teil der Wandernden bei Davos Laret für eine halbe Stunde die Strasse blockiert, ist kein einziges grosses Medienhaus vor Ort. Aber es sieht aus, als würde die neue Bewegung gegen das Wef diesen Fehler sowieso nicht machen: sich über das zu definieren, was die Medien über sie schreiben und sagen.

Pulled Pork aus Seitan

Am Sonntag ist die Winterwanderung aufgebrochen. Ausgerechnet in Landquart, dem Ort, den ältere AktivistInnen mit düsteren Erinnerungen verbinden: Im Januar 2004 räumte die Polizei hier einen Zug, der von einer Anti-Wef-Demo in Chur kam, trieb die Leute mit Tränengas und Gummischrot über die Gleise und hielt über tausend Personen stundenlang auf dem Bahnhofplatz fest. Die brutale Aktion gab der grossen, zu dieser Zeit schon ziemlich zerstrittenen Anti-Wef-Bewegung den Rest. «Drei Jahre lang nicht bewilligte Demos und viel Gewalt – das hat viele traumatisiert», sagt der langjährige Aktivist Theo heute. «Die Winterwanderung hat für mich das Ziel, das Landquart-Trauma zu überwinden.»

Etwa 1400 Menschen haben sich am frühen Sonntagnachmittag in Landquart besammelt: viele Junge, viele im Pensionsalter, aber auch Familien. Die Klimaseniorinnen sprechen, Marcel Hänggi von der Gletscherinitiative, die kolumbianische Bewegung gegen Kohle schickt Grüsse. Feuerwehrleute bewachen die postmoderne Landquarter Bahnhofstrasse, als der Demonstrationszug diesen seltsamen Ort verlässt, an der Ziegelei vorbei, vor sich die Felswände der Klus, die ins Prättigau führt. Es beginnt zu schneien, aus dem solarbetriebenen Soundwagen singt Freddie Mercury «I Want to Break Free», und Sechzigjährige tanzen neben Zwanzigjährigen. Schwarz gekleidete Jugendliche mit Anarchiefahnen wandern neben unauffälligen Menschen in Funktionskleidung und skurrilen Figuren wie dem «SustainaClaus». Der bärtige Kanadier im Samichlauskostüm hinterlässt mit einem Schaumstoffstempel Abdrücke an Wänden und im Schnee: Koalaspuren. «Der Koala ist ein Klimaflüchtling», sagt er. «Sein Haus brennt – und in Davos treffen sich die Leute, die die australische Kohle finanzieren.»

Es ist schon dunkel, als die Wanderung im Bildungszentrum Palottis in Schiers ankommt. Alles ist ausgezeichnet organisiert: Ein freiwilliges Kochteam versorgt die rund 600 Leute, die bleiben, mit richtig gutem veganem Essen, der Zivilschutz hilft beim Empfang, Busse fahren zu den verschiedenen Unterkünften, die Einheimische zur Verfügung gestellt haben. Und auf dem Vorplatz wartet eine Delikatesse: Pulled Pork – natürlich aus Seitan. Später diskutiert im «Palottis» eine WWF-Vertreterin mit einem Bauernverbandsmann und dem jungen Aktivisten Loris Niethammer über die Klimapolitik des Kantons. Der Sechzehnjährige beeindruckt mit seinem Fachwissen.

Jenaz, Montagmorgen. Noch gut dreissig Kilometer bis Davos. «Landhaus»-Wirtin Madlene Rominger schenkt auf der Strasse süssen Tee aus. Gestern sei nach Mitternacht ein Zivilschützer aus Schiers in die Beiz gekommen, da hätten ihr Mann und sie spontan entschieden, die Winterwanderung zu empfangen. «Die Leute im Prättigau nerven sich sehr über das Wef: den Verkehr, das Militär, die Helis. Die einen sagen, es bringe halt Geld – ja, denen in Davos oben, nicht uns!» Und so geht es den ganzen Tag: Auf der langen, strengen Etappe von Schiers nach Klosters fast nur freundliche Einheimische. Sie stehen auf Balkonen und winken, das Postauto macht Düdado, die Lokomotiven grüssen pfeifend, und einer stellt gleich zwei Schnapsflaschen aufs Fenstersims.

Diszipliniert und sorgsam

Manchmal wirkt alles wie ein Flashback von circa 2001. Die Kritik am Wef ist immer noch die gleiche, etwa am international besetzten Podium in Klosters am Montagabend, und wie schon vor zwanzig Jahren denkt man: Zum Glück gibt es unabhängige NGOs, die bei den Freihandelsverträgen das Kleingedruckte durchlesen. Aber die Bewegung ist eine andere, nicht nur, weil ökologische Fragen damals nicht im Vordergrund standen. Die Winterwanderung ist viel zurückhaltender, was Konfrontationen mit der Polizei angeht, und spricht sich in ihrem «Aktionskonsens» gegen Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Lebewesen aus.

Mindestens so wichtig sind aber die internen Veränderungen. Die OrganisatorInnen der Wanderung achten sehr sorgfältig darauf, dass sich niemand allein gelassen fühlt. Für alle, die noch keine «Bezugsgruppe» von vier bis acht Personen gefunden haben, gibt es am Sonntag extra ein Treffen zur Bezugsgruppenfindung. Das ist nicht nur sinnvoll, weil kleine Teams gut darauf achten können, ob es allen gut geht, jemand warme Socken oder Schokolade braucht. Mit Bezugsgruppen lassen sich auch schnell und basisdemokratisch Entscheide fällen: Jede Gruppe schickt eineN DelegierteN ins Plenum. Das wird vor allem am Montag wichtig, als es eine grosse Frage zu klären gibt: Wie kommen wir am Dienstag von Klosters nach Davos? Nur eine einzige Strasse verbindet die beiden Orte, und die Wanderung darauf ist nicht bewilligt – sie würde zu kilometerlangen Staus führen. Immer wieder trifft sich während Marschpausen das «Deliplenum», um eine Strategie zu finden, die allen behagt. Die in der Klimabewegung mittlerweile etablierten Handzeichen – Zustimmung, Veto, «bitte Ruhe» und viele weitere – erleichtern das Ganze.

Montagabend, Arena Klosters. Nach harten Verhandlungen in den Vorwochen hat die Gemeinde der Winterwanderung den riesigen Saal des Sportzentrums als Treffpunkt und Schlafsaal überlassen. Es riecht nach verschwitzten Socken, später auch nach Massageöl. Während sie in der Schlange auf den Znacht warten, erzählen zwei Wandernde vom Entscheidungsprozess. «Die Leitung hat die Vorschläge aus dem letzten Plenum gesammelt und vorgestellt», sagt Susanne. «Das half bei der Entscheidung. Alles läuft sehr diszipliniert und sorgsam ab.» Matthias ergänzt: «Eine Person leitete die Plenen – und machte das sehr gut. Ich fand es ziemlich mutig, so stark einzugreifen. Früher hätten wir wohl einfach ein chaotisches Plenum gemacht, und alles hätte viel, viel länger gedauert.»

Die halbstündige Blockade

Am Dienstagmorgen steigen etwa 500 Menschen von Klosters durch den verschneiten Wald in die Höhe. Die Mittagspause beim kleinen See von Laret verläuft vergnügt, und es klingt absolut glaubwürdig, als die junge Frauenstreik-Aktivistin Miriam von der Stimmung der Wanderung schwärmt: «Die Solidarität, die wir leben, können wir dem Wef entgegensetzen.»

Alles wird immer idyllischer. In Laret mit seinen Holzhäusern und dem Kirchlein sieht die Welt endgültig aus wie eine Postkarte, die sich auch durch revolutionäre Slogans nicht aus dem Schlaf reissen lässt. Dann überquert die Wanderung die Strasse. Die hintersten hundert Leute scheren aus und versuchen, Richtung Wolfgang zu ziehen. Die Polizei stoppt sie mit Gitterwagen, und so blockiert die Wanderung eine halbe Stunde den Wef-Verkehr. Schliesslich ziehen alle weiter, gerade als es brenzlig wird. Es ist wahrscheinlich die beste Strategie für den Tag: Konfrontativ bleiben – aber nicht, bis es eskaliert.

Später wärmen sich im Tankstellencafé von Wolfgang zwei BernerInnen auf, die schon vor zwanzig Jahren die Proteste mitorganisierten. Sie haben inzwischen graue Haare, sehen übermüdet, aber zufrieden aus, und eine der beiden sagt: «So, wie das läuft, kann man sich langsam vorstellen, dass eine andere Welt möglich ist.»