Inklusion: «Man kann auch zu viel schützen»
Die «Fabrique28» in Bern ist eines von wenigen Restaurants in der Schweiz, das Menschen mit Behinderung beschäftigt und dabei selbsttragend wirtschaftet. Die Betreiber:innen sind überzeugt: Was andernorts als inklusiv gilt, ist in Wahrheit diskriminierend.
«Lass die Tasse ruhig da stehen», sagt Jonas Staub. Er steht vor dem Eingang eines grossen Sandsteinhauses, knapp fünf Minuten vom Bahnhof Bern entfernt. Hinter dem schwarz gerahmten Schaufenster sind Beizentische aus Holz zu sehen. Ein junger Mann mit Schürze räumt Teller und Gläser ab. Eigentlich ist in diesem Bereich Selbstbedienung, aber die Gäste sind dazu angehalten, ihr Geschirr auf den Tischen stehen zu lassen. «Für manche mag das etwas seltsam sein», sagt Staub beim Reingehen, «aber für unsere Mitarbeitenden ist es eine gute Übung. So lernen sie, Hemmungen abzubauen.»
Arbeit auf sich und das Team nehmen, wo es auf den ersten Blick gar nicht nötig scheint: Das bringt Staubs Engagement ganz gut auf den Punkt. Der ehemalige Sozialpädagoge merkte früh, dass ihm die Art und Weise, wie Menschen mit Behinderung in der Schweiz behandelt werden, nicht behagte. Staub, selbst ohne Behinderung, hatte Mühe mit der Marginalisierung, der Menschen mit Behinderung ausgesetzt sind: dem Abschieben in öffentlichkeitsarme Gebiete, an die Ränder von Städten, in Institutionen, die es, wie er sagt, zwar nett meinten, aber Menschen nur beschäftigten, statt sie zu ermächtigen. Nach Zielen oder Träumen, sagt Staub, würden Menschen mit Behinderungen in der Schweiz nicht gefragt.
Auf Sichtbarkeit ausgelegt
Also setzte er Hebel in Bewegung, um es anders zu machen. 2004 gründete er die Non-Profit-Organisation Blindspot, die Freizeitangebote für Jugendliche mit und ohne Behinderung anbietet, etwa Feriencamps. Die Organisation bietet auch Ausbildungsplätze an, verantwortet Beratungsmandate bei namhaften Firmen, ermöglicht Hausgemeinschaften zwischen Menschen mit und ohne Behinderung und verantwortet in der Stadt Bern erfolgreich drei Restaurants und zwei Pop-ups mit insgesamt 57 Angestellten – 17 von ihnen haben eine Beeinträchtigung. Die Bandbreite ist gross: Die einen haben körperliche und kognitive Beeinträchtigungen, andere psychische und soziale. Staub und sein Team kommunizieren diesbezüglich bewusst nichts Genaueres.
Die «Fabrique28», im Monbijou-Quartier gelegen, ist einer dieser Betriebe. Im Inneren gibt es einen bedienten und einen unbedienten Teil, in Letzterem stellen sich Gäste an einen Tresen und lassen sich von den Angestellten Bowls zusammenstellen oder Suppe schöpfen. Davor gibt es eine Bar mit grosser Kaffeemaschine und einer Glasvitrine mit Kuchen. Der ganze Raum ist auf Sichtbarkeit und Interaktion ausgelegt.
Von Anfang an sei das der Fokus gewesen, sagt Staub: Sichtbarkeit. «Inklusion ist immer ein Aufeinanderzugehen. Wer Menschen mit Behinderung versteckt, selbst wenn das aus Goodwill oder ‹Schutz› ist, wird nie wirklich inklusiv sein.» Das sagt er auch den namhaften Firmen, die er berät, und den zahlreichen Stiftungen, Gemeinden und Kantonen, die ihn für Referate einladen. Die würden ihm mittlerweile nicht mehr den Vogel zeigen, sagt Staub. Sondern am Apéro danach lieber verschämt über andere Themen sprechen.
Anzoli Bulut steht in der Küche und zeigt den À-la-carte-Bereich: Chromstahl, Wärmelampen, Pfannen, Schüsseln, Fritteuse. Hier setzt sie Burger zusammen, garniert Salate und Speisen, die dann in den bedienten Teil des Restaurants gehen. Es sei ihr Lieblingsort, sagt sie. Bulut, neunzehn Jahre alt, Lernende aus einem Berner Vorort, hat eine Lernschwäche; vor allem mit Zahlen hat sie mehr Mühe als andere in ihrem Alter. Sie macht ihre «praktische Kurzausbildung» hier – ein Berufsbildungsangebot für junge Menschen mit Lernschwierigkeiten. «Ich wollte immer was mit Menschen machen – und hier gefällt mir das Team und die Abwechslung. Ich fühle mich aufgehoben.»
Sanft und fordernd
Buluts Einstieg in die «Fabrique28» war sanft. Wie bei den anderen drei Jugendlichen, die der Betrieb derzeit ausbildet, setzten sich Staub und das Team anfangs mit ihr zusammen und schauten, was sie brauchte. Erst kam sie ein halbes Jahr lang jeden Montag zum Schnuppern, dann stieg sie mit einer 36-Stunden-Woche ein. Heute arbeitet sie wöchentlich 42 Stunden, wie alle anderen Angestellten auch. Jeden Montag und Donnerstag setzt sie sich mit einer Coachin zusammen und erhält Unterstützung bei Dingen, die ihr punktuell Mühe bereiten. Etwas direkt anzusprechen, zum Beispiel. Zu sagen, wenn ihr etwas schwerfällt.
«Wir gehen hier auf individuelle Bedürfnisse ein», sagt Melanie Molo, die seit den Anfängen der «Fabrique28» vor sieben Jahren dabei ist. Sie ist, wie Staub, ehemalige Pädagogin, machte dann das Wirtepatent und arbeitet seither als Betriebsleiterin. Das Ziel sei, gerade bei Lernenden wie Anzoli Bulut, dass eine solche Unterstützung irgendwann nicht mehr nötig ist. Sie soll im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen können. Was nur möglich ist – davon sind Molo und ihre Kolleg:innen überzeugt –, wenn man sie auch fordert. «Wir spiegeln die Realität. Das ist für Menschen, die aus einem geschützten Kontext kommen, nicht immer einfach. Man kann auch zu viel schützen.»
Was Molo anspricht, ist Teil einer Debatte, die in der Schweiz seit Jahren geführt wird: Wie viel soll man Menschen mit Behinderung zutrauen? Zentral bei diesen Diskussionen ist die Einteilung in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt. Der erste Arbeitsmarkt ist der, den man als regulär angestellte Person in der Schweiz kennt; im zweiten Arbeitsmarkt sind jene Menschen tätig, die nicht unter den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen des ersten Markts arbeiten können oder dürfen. Meist sind das geschützte Werkstätten, wo Seifen, Putzmittel oder Brändi-Dog-Spiele hergestellt werden. Laut einem Bericht der Hochschulen Zürich, Lausanne und Westschweiz aus dem Jahr 2019 liegt in der Hälfte dieser Institutionen der tiefste Stundenlohn zwischen 1 Rappen und 1.99 Franken. Hinzu kommen jeweils Beiträge der IV und Ergänzungsleistungen.
Das Argument für solche Werkstätten lautet seitens der Fürsorgeindustrie: kurze Arbeitswege, leichte Arbeit, Struktur. Man schütze die Menschen vor einem Markt, in dem sie ohnehin keine Chance hätten. Staub und sein Team sehen das anders. Gleichwertigkeit dürfe nicht mit Gleichleistungsfähigkeit verwechselt werden, sagt Staub. «Wenn jemand in einem Bereich nicht alles leisten kann, holen wir halt jemanden hinzu, der diese Person ergänzt.» Am Schluss müsse das Team hundert Prozent Leistung und Qualität abliefern, nicht die einzelnen Personen. Was ganz einfach klingt, ist in den allermeisten Schweizer Betrieben noch nicht angekommen und bei den Schweizer:innen mit Behinderung, die in institutionsnahen Werkstätten arbeiten, ebenfalls nicht. «Man trainiert ihnen ein Fehlverhalten an», sagt Staub. «Ihnen wird bei jeder Herausforderung sofort geholfen, man hat keine Vision für sie, sie haben kein Kündigungsrecht, man redet mit ihnen nicht über Karriereplanung oder Lohnverhandlungen. Man macht sie behinderter, als sie sind.»
Ein «total anderer Anreiz»
Auch der Bundesrat kam 2023 in einem Bericht zum Schluss, dass Arbeitnehmende in geschützten Werkstätten diskriminiert werden, was Wahlfreiheit und Weiterbildungsmöglichkeiten angeht. Geplant ist eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes, die Menschen mit Behinderung in privaten Arbeitsverhältnissen besser schützen soll. Ausserdem soll der Übergang vom geschützten zum allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtert werden.
Ein Betrieb könne wirtschaftlich nur inklusiv sein, sagt Jonas Staub, wenn er auch unabhängig von den Angestellten mit Beeinträchtigungen existieren kann. Anders als die Integrationsbetriebe, die sich mit kantonalen Tagesgeldern und anderen Zuschüssen quersubventionieren, werden in der «Fabrique28» alle Betriebskosten durch die Einnahmen gedeckt. Seine Angestellten seien nicht da, weil der Staat ihm Geld dafür bezahle. «So was merken sie, das ist ein total anderer Anreiz», sagt Staub.
Statt Institutionen Gelder für Menschen mit Unterstützungsbedarf zu zahlen, sollten Kantone auf die Subjektfinanzierung umsteigen: Das Geld geht dabei direkt an die Menschen mit Behinderung, die mithilfe von Beiständ:innen festlegen, welcher Ausbildung oder Arbeitstätigkeit sie nachgehen möchten. «Leider passiert das in den meisten Kantonen noch nicht.»
Solange Werkstätten kantonale Gelder einstrichen und private Arbeitgeber:innen nicht gewillt seien, Menschen mit Behinderung in ihre Betriebe aufzunehmen, seien Bemühungen wie die Teilrevision zwar gut gemeint, aber wenig effektiv, sagt Staub. Für ihn muss der Wandel tiefgreifender stattfinden: indem man aufhört, Menschen mit Behinderung ihre Fähigkeiten abzusprechen. «Wir hatten schon Leute hier, die sagten anfangs kein Wort», erzählt er. Zu sehr seien sie es gewohnt gewesen, dass andere für sie das Wort ergriffen. Aber in einem Restaurationsbetrieb sei keine Zeit für solche Extras. «Das klingt vielleicht hart, aber nur so kommen Menschen in die Selbstverantwortung. Man zeigt ihnen, dass sie behandelt werden wie alle anderen auch.»
Die Lernende Anzoli Bulut, sagt Staub überzeugt, werde nie eine geschützte Werkstatt betreten. Das mag für viele ein Wagnis darstellen – für ihn hingegen ist es eine Selbstverständlichkeit. Und Teil seiner Mission, seit zwanzig Jahren.
Inklusions-Initiative : Der Anspruch auf Gleichstellung
Seit dem Jahr 2004 hat die Schweiz ein Behindertengleichstellungsgesetz, das von Fachstellen und Organisationen immer wieder als unzulänglich kritisiert wird. Derselben Meinung ist die Uno: Nachdem die Schweiz 2014 das internationale Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) unterschrieben hatte, stellte ihr der Ausschuss der Behindertenrechtskonvention 2022 ein schlechtes Zeugnis aus. Seit der Ratifizierung der Konvention 2014 sei die Gesetzgebung auf Bundes- und kantonaler Ebene kaum im Sinne der BRK geändert worden. Die von der Konvention geforderte Inklusion werde auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft noch zu wenig gelebt.
Als Reaktion auf die Lage wurde 2023 die Inklusions-Initiative ins Leben gerufen, die die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen sicherstellen will. Die Volksinitiative fordert zwei Anpassungen im Behindertengleichstellungsgesetz: Erstens sollen alle Menschen das Recht auf eine freie Wahl von Wohnform und Wohnort haben. Und zweitens sollen Menschen mit Behinderung Anspruch auf die für die Gleichstellung erforderlichen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen haben, insbesondere auf personelle und technische Assistenz.
Hinter der Inklusions-Initiative steht ein breit abgestütztes, überparteiliches Initiativkomitee. Zu den Trägerorganisationen gehören unter anderem Agile, Amnesty International, Inclusion Handicap, die Stiftung für direkte Demokratie und der Verein Tatkraft. Die Sammelfrist läuft bis am 24. Oktober 2024.