Identitätspolitik: «Für mich bedeutet Freiheit in Zürich auch Demokratie in Damaskus»
Der deutsch-kurdische Psychologe Jan Ilhan Kizilhan erforscht Traumata bei Geflüchteten und berät die Sicherheitsbehörden im Umgang mit IS-RückkehrerInnen. Ein Gespräch über kurdischen Widerstand, Opferstatus und die Gefühle von Terroristen.
WOZ: Herr Kizilhan, zurzeit stehen die Kurdinnen und Kurden wieder einmal unter Druck. Im Oktober 2019 liess US-Präsident Donald Trump seine Verbündeten in Nordsyrien fallen, woraufhin die Türkei dort einmarschierte. Sie selbst sind Jeside kurdischer Herkunft. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von Ankaras Angriff hörten?
Jan Ilhan Kizilhan: Natürlich war ich wütend und verärgert. Als Kurde und als Jeside habe ich grosse Ehrfurcht vor den kurdischen Einheiten und ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat, sie haben so viel geleistet. Doch mit einer gewissen Distanz lässt sich auch sagen, dass diese Entwicklung zu erwarten war. Der Verrat durch den damaligen US-Aussenminister Henry Kissinger etwa, der die Kurden 1975 im Krieg gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein im Stich liess, ist immer noch sehr stark in meinem Bewusstsein.
Kurden vergleichen sich oft mit Steintauben, die sich durch ihren Gesang gegenseitig in die Falle locken. Warum gelingt es ihnen nicht, die seit Jahrtausenden anhaltenden inneren Fehden zu beenden und gemeinsam auf einen eigenen Staat hinzuarbeiten?
Viele Kurden ärgert es, wenn ich sage, sie seien zwar ein Volk, aber keine Nation, weil sie nie einen eigenen Staat hatten. Historisch betrachtet waren sie immer nur so lange willkommen, wie sie Soldaten stellten und Steuern zahlten. Gleichzeitig haben wir Stammeskämpfe innerhalb der Gemeinden und eine patriarchale Gesellschaft, die interessengeleitet handelt und gegeneinander kämpft. Hinzu kommt, dass wir Kurden keine Realpolitik betreiben, weil wir keine Macht dazu haben. Stattdessen sind wir abhängig von Akteuren und nicht in der Lage, Dinge selbstständig zu entscheiden. Auch im Kampf gegen den IS wären die Kurden ohne die Unterstützung der Alliierten niemals so erfolgreich gewesen …
… aber dies immerhin sehr erfolgreich …
Ja, insgesamt sehe ich die Entwicklungen sehr positiv, aber auch nüchtern und realistisch. Wir Kurden gewinnen langsam mehr an Einfluss, das politische Bewusstsein wächst. Die Anzahl der Menschen, die sich zu ihrer kurdischen Identität bekennen, hat zugenommen. Dennoch werden wir noch mehrere Generationen lang kämpfen müssen, bis Kurden im Irak oder in der Türkei gleichberechtigt leben können – und Kurde sein nicht mehr verflucht sein bedeutet. Übrigens auch ein Narrativ, von dem die Kurden nicht lassen können.
Ein Narrativ, hinter dem was steckt?
Es gibt in der kurdischen Gesellschaft eine Opferidentität. Dies führt dann zu Selbstmitleid und ständiger Unzufriedenheit. Wenn etwas Erfreuliches geschieht, darf man sich nur kurz freuen, denn es könnte ja bald wieder ein Unheil passieren. Da wird dann auch politisch nicht rational, sondern emotional gehandelt, was alles nachvollziehbar ist. Doch diese Opferidentität ist ein Teufelskreis, weil sich eine Verhaltensweise somit immer wiederholt.
Kann diese Opferidentität auch zu Bequemlichkeit führen?
Klar, ich habe eine Argumentation, die mein unkluges Handeln legitimiert, und kann mich damit gegen einen Neuanfang stemmen.
Der Opferstatus wird also politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert?
Nicht nur. So erleben wir gerade tatsächlich eine Phase, in der aus der Opfer- eine Überlebensidentität wird. Bei meinen Patienten, die Kriege überlebt haben, wehre ich mich vehement gegen das Wort «Opfer»: Es sind Überlebende. An Opfer nähern wir uns anders an, wir empfinden Mitleid. Ein Überlebender hingegen hat gekämpft. Da sind wir dann bei der Widerstandsidentität.
Was bedeutet das?
Die Kurden identifizieren sich stark über den Widerstand. Auch ich habe trotz der vielen Kämpfe und Gräueltaten die Hoffnung nicht verloren, die haben uns auch stark gemacht. Es ist zwar viel Grausames passiert, aber wir überleben trotzdem und werden auch weiterhin überleben. Doch zugleich müssen wir unsere Visionen ändern. Wir sagen ja gerne, wir Kurden hätten keine Freunde, sondern nur die Berge – aber vielleicht müssen wir diese Erzählung neu interpretieren: Die Berge sind unsere Freunde, aber wir haben auch viele Freunde auf der ganzen Welt. Die Sympathie für die Kurden ist immens gestiegen, vor allem durch den Krieg gegen den IS, aber auch durch die YPG-Kämpfer im nordsyrischen Rojava.
Ist Widerstand bei den Kurdinnen und Kurden also eine traditionelle Verhaltensweise?
Bestimmte Verhaltensweisen, Gedanken und Emotionen werden von einer Generation auf die nächste übertragen, das können wir teilweise auch biomedizinisch nachweisen. Die kurdische Geschichte ist eine Geschichte voller Aufstände und Unterdrückung, Flucht und Fluchtvermeidung – all das prägt. Dadurch entsteht auch eine gewisse Resilienz, eine innere Widerstandskraft. Anders hätten wir im teils doch sehr aggressiven Islam der letzten 1400 Jahre nicht überlebt und würden auch heute nicht überleben.
Ähnliches habe ich bei meinen jesidischen Patienten erlebt. Ich selbst habe nach dem Genozid an den Jesiden im Nordirak durch den IS Tausende überlebende Jesidinnen untersucht. Sie alle wurden vergewaltigt und haben Familienmitglieder verloren, viele mussten mitansehen, wie ihre Väter und Ehemänner exekutiert wurden. Sie haben mir gegenüber eine unglaubliche Kraft gezeigt. Und als ich sie gefragt habe, woher diese Stärke komme, antworteten sie, sie würden ähnliche Geschichten schon von ihren Vorfahren kennen. Auch wenn es sarkastisch klingt: Sie sind auf Katastrophen besser vorbereitet als andere Gruppen.
Welche Überlebenstaktiken haben diese Menschen noch?
Die Gastfreundschaft gegenüber Fremden ist beispielsweise ein Überlebensmechanismus, das gilt für viele Minderheiten wie etwa auch die assyrischen Christen. Wenn ich freundlich zu jemandem bin, bindet das – denn gegen die Mehrheit kann man ohnehin nicht kämpfen. Innerhalb einer Gruppe gibt es hingegen eine andere Dynamik, da sind die Menschen konfliktfähig – und da wären wir wieder bei den inneren Fehden. Wenn mein Feind stärker ist als ich, lasse ich meine Aggressionen an meinen Nächsten aus. So ist es auch in kurdischen Gruppen: Sie konnten sich oft nicht wehren, ihre Ehre und Männlichkeit wurden immer infrage gestellt, sie wurden verschleppt und gefoltert, ihre Frauen und Kinder auf offener Strasse getötet, ohne dass sie ihre Familien hätten schützen können.
Lassen Sie uns über aktuelle politische Themen sprechen: Sie beraten auch deutsche und französische Sicherheitskreise im Umgang mit IS-Rückkehrern. Was in vielen Ländern als völkerrechtlich und moralisch umstritten gilt, hat die Schweiz gerade umgesetzt. Einer Doppelbürgerin, die sich dem IS angeschlossen hatte, wurde die Schweizer Staatsbürgerschaft entzogen.
Als Doppelbürger geht man eine Verpflichtung ein: dass man die Werte und Normen und die Gesetzgebung des Landes einhält. Deshalb finde ich es nachvollziehbar, wenn bei einer nachgewiesenen IS-Unterstützung der Pass entzogen wird.
Aber wird damit nicht ein Doppelstandard manifestiert: Nur wer sich an unsere Regeln hält, darf bleiben? Zudem werden mit solch einem Vorgehen die Probleme ausgelagert.
Natürlich, das ist ein wichtiges Argument. Aber wenn ich zwei Staatsbürgerschaften habe, habe ich auch einen Ursprungspass. Der Besitzer sollte sich auch mit den kulturellen Werten und Normen, der Demokratie und den Menschenrechten des Landes identifizieren, dessen zweiten Pass er hat. Aber sicher, es ist auch ein Politikum: Wir machen den Leuten Angst, dass sie ihre Staatsbürgerschaft verlieren könnten. Politisch gesehen ist es ein Signal an die Konservativen und jene, die übermässige Angst haben, die Behörden hätten nicht alles unter Kontrolle.
Was geht in den Köpfen von Männern vor, die aus westlichen Ländern zum Morden nach Syrien oder in den Irak reisen?
Die Konvertiten, die sich dem IS angeschlossen haben, sind die Schlimmsten. Psychologisch lässt sich das einfach erklären: Sie müssen sich noch mehr beweisen, sind dementsprechend viel brutaler. Und wenn man immer wieder Gewalt anwendet, hat man irgendwann Spass daran. Die Rückkehrer müssen wir natürlich individuell betrachten. Wie stark war ihre Beteiligung an den Kämpfen? Waren sie bei den Tötungen dabei? Glauben sie immer noch an die Ideologie des IS? Das ist ein schwieriges Unterfangen, da haben auch die Sicherheitsleute keine Zauberformel. Es gibt immer ein Restrisiko, mit dem wir leben müssen. Aber die Zahl der Konvertiten ist nicht so hoch.
In den Camps, in denen IS-Kämpfer interniert sind, werden Tausende Kinder mit ausländischen Pässen vermutet. Sollten sie aktiv zurückgeholt werden?
Auf jeden Fall. Sie müssen das auch umgekehrt denken: In den Camps im Nordirak, in denen ich gearbeitet habe, gab es etwa 1200 Kinder, die als Kindersoldaten für den IS gekämpft hatten. Sie waren von den Terroristen einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Holt man sie nicht zurück, werden sie an Verwahrlosung sterben oder vom IS oder anderen radikalen Gruppen angeworben und selber zu Terroristen. Mir haben neunjährige Kinder erzählt, dass ihnen an Puppen beigebracht wurde, wie man Köpfe abschneidet. Wenn wir uns im Irak und in Syrien nicht schnell um diese Kinder kümmern, werden wir in den nächsten Jahren eine neue Gruppe Terroristen haben, die vielleicht sogar schlimmer sind als der IS. Man muss signalisieren, dass man die Unschuldigen nicht im Stich lässt. Sonst füttert das die Ideologie des IS, laut der der Westen der Feind ist.
Sie behandeln nicht nur Überlebende des IS-Terrors, sondern haben auch mit IS-Kämpfern gesprochen. Die Killer hätten auch Gefühle, sagen Sie. Welche Empfindungen sind das?
IS-Terroristen sind ja nicht per se Unmenschen, sondern Personen, die eine Ideologie vertreten. Ich habe beispielsweise einen Mann interviewt, der sich Sorgen um seine Frau und seine Kinder im syrischen Rakka machte. Ein ganz typischer Familienvater, der am Abend nach Hause ging und seine Kinder umarmte, aber am nächsten Tag als Henker Köpfe abschnitt.
Wie gehen Sie bei solchen Gesprächen vor?
Von diesem Mann wollte ich zuerst wissen, ob er denn keine Gefühle habe. Er schaute mich an und antwortete, die Opfer seien ja keine Menschen. Wir beobachten bei diesen Personen das Phänomen der Entmenschlichung des Anderen, wie wir es auch bei den Nazis im Zweiten Weltkrieg gesehen haben. Sie stempelten Menschen als Ungeziefer ab – und Ungeziefer rottet man aus. Wenn man eine bestimmte Ideologie hat, kann man seine Empathie unterdrücken.
Einige IS-Kämpfer sagten mir, sie hätten manchmal mehr Mitleid mit einem Huhn, das sie zum Essen schlachten, als mit einer Jesidin, die sie vergewaltigen. Psychologisch gesehen sind das keine Psychopathen, es sind ganz normale Menschen, die zu solchen Grausamkeiten fähig sind. Wir gehen davon aus, dass beim IS weniger als ein Prozent der Leute psychisch krank sind. Das sind völlig normale Familienväter, junge Leute aus der Mitte der Gesellschaft …
… und das in einer Region, die von ethnischen Gegensätzen und offenen Konflikten geprägt ist.
Tatsächlich hat es im Nahen und Mittleren Osten nie eine Zeit gegeben, in der Frieden herrschte. Lange hatten sogenannte Ungläubige kein Recht auf Leben – oder nur als Sklaven. Das gilt vielerorts immer noch, und die muslimische Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen, dass Veränderungen vehement abgelehnt werden. Historisch gesehen wurden jegliche Veränderungen immer durch Terror unterbunden. Der IS ist eine Fortführung dieser Kräfte. Der Islam muss sich verändern, weil sich die Welt verändert hat und weiterhin verändert. Diese Gruppen aber verhindern Veränderungen. Auch wenn der IS verschwindet, was ich nicht glaube: Die Ideologie und die Wut auf den Westen werden bleiben.
Macht Ihnen das Sorgen?
Wenn ich die Menschen schützen will, muss ich über die Grenzen des eigenen Staates schauen – und deswegen wünsche ich mir, dass wir uns friedenspolitisch aktiver im Mittleren und Nahen Osten engagieren. Wir als Gesellschaft müssen etwa die Leute unterstützen, die Demokratie fordern. Für mich bedeutet Freiheit in Zürich auch Demokratie in Mosul oder in Damaskus. Wir schotten uns zu sehr ab und wollen nichts von dem abgeben, was wir haben. Doch wenn wir anfangen, uns zu schützen und konservativ zu werden, werden wir alles verlieren. Aus meiner Sicht hat Europa in den letzten Jahrzehnten versagt, indem man nur wirtschaftlichen und politischen Interessen folgte und ein Anhängsel der USA war: Wir geben das Geld, sie bombardieren und lassen uns in Ruhe.
Was bedeutet das für die Kinder, wenn die Eltern vor Krieg flüchten müssen? Das Leben der Eltern sei das Buch, in dem Kinder lesen würden, haben Sie einmal geschrieben.
Die Biografie meiner Vorfahren ist Teil meiner Identität, und meine Identität ist Teil meiner Kinder. Ohne die Vergangenheit weiss der Mensch nicht, wo es hingeht. Wenn ich die Vergangenheit integriere, auch eine Kriegserfahrung, kann ich das als etwas Positives sehen. Eine Patientin, die vergewaltigt und gefoltert wurde, hat das Schlimmste durchgemacht, was ein Mensch erleben kann – sie weiss aber auch, was leben bedeutet und sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Ihr sage ich, dass sie das Leben geniessen und nicht in der Vergangenheit hängen bleiben soll. Dieses Wissen um die Vergangenheit macht sie stabiler in ihrer Identität. Idealerweise würden die Eltern im Ankunftsland die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Traumata zu verarbeiten und zu lernen, was und wann sie ihren Kindern davon erzählen können.
Rund die Hälfte der in westliche Länder flüchtenden erwachsenen Personen leiden unter Traumafolgeerkrankungen, so das Schweizerische Rote Kreuz. Welche Auswirkungen hat es auf uns als Gesellschaft, wenn wir seelisch Verletzte nicht ausreichend behandeln?
Wir gehen davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der nach Europa Geflüchteten eine klinische Traumastörung haben, also behandlungsbedürftig sind. Doch es fehlt an Fachpersonal, es gibt zu wenige Dolmetscher und kultursensible Psychotherapeuten. Das ist ein Problem für die Gesellschaft. Wie soll ich jemanden integrieren, der nicht gesund ist? Wie soll jemand die neue Sprache lernen, wenn er noch mit seinen Albträumen beschäftigt ist? Es ist ein Problem – auch in der Schweiz –, dass wir zu wenige Zentren haben, die überhaupt finanziert werden.
Ist es ein politisches Versagen, wenn die Gelder nicht zur Verfügung gestellt und die Menschen alleine gelassen werden?
Dieser Zustand ist nicht hinnehmbar. Man muss einer Gesellschaft eine neue Perspektive geben und selbstverständlich auch die Strukturen verändern. Wir können nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Wissenschaftler liefern die Daten dazu, aber Politiker ignorieren das dann – und schaden sich so selbst. Wir sprechen von einem Fachkräftemangel, haben aber junge Flüchtlinge, die sich schnell ins Arbeitsleben integrieren liessen. Doch es dauert lange bis zur Entscheidung, ob sie überhaupt hierbleiben dürfen. Wir als Wissenschaftler, aber auch als Gesellschaft müssen insgesamt mehr Druck ausüben. Auf der ganzen Welt werden Länder zu Einwanderungsländern – und darauf müssen wir uns vorbereiten. Gleichzeitig wollen die rechten und konservativen Kräfte jegliche Veränderung mit aller Macht verhindern, notfalls auch mit Gewalt. Symbolisch gesehen lassen die sich mit dem IS vergleichen.
Psychologe und Literat
Der Orientalist und Psychologieprofessor Jan Ilhan Kizilhan (55) ist an der deutschen Hochschule Villingen-Schwenningen auf transkulturelle Psychologie und Traumatologie spezialisiert. Er leitet unter anderem das Sonderprogramm der baden-württembergischen Landesregierung zur Behandlung jesidischer Kriegsopfer. Zudem bildet er im Nordirak PsychotherapeutInnen aus und unterrichtet an der Universität Bern. Mit Traumata beschäftigt sich Kizilhan seit dem Giftgasanschlag in der irakischen Stadt Halabdscha. Bei dem Angriff durch Saddam Husseins Armee starben 1988 rund 5000 KurdInnen.
Neben seiner Tätigkeit als Psychologieprofessor ist Kizilhan Autor zahlreicher Fachbücher, unter anderem über den IS, publiziert aber auch literarische Werke. Vor wenigen Wochen ist der Roman «Dilan – Ein Wimpernschlag für die Ewigkeit. Eine lesbische Muslime kämpft gegen den IS» erschienen.