Die Linke in Grossbritannien: Eine Hafenstadt als Vorbild

Nr. 14 –

Am Samstag wählt Labour einen neuen Vorsitz. Aber wie kann sich die Partei aus dem Loch befreien, in dem sie zurzeit steckt? Auf der Suche nach Antworten in der roten Hochburg Liverpool.

Seit jeher links: Liverpooler Fussballfans beim Match des FC Liverpool gegen den AFC Bournemouth im vergangenen Dezember. Foto: Adam Davy, Alamy

«Wir sind doch nicht blöd», sagt die junge Verkäuferin in der Bäckerei. Damit gibt sie die kürzeste, wenn auch nicht die aufschlussreichste Antwort auf die Frage, weshalb die LiverpoolerInnen Labour wählen. Ihr Laden liegt im Stadtteil Walton, einen Steinwurf vom legendären Stadion des FC Liverpool entfernt. Es ist eines der ärmsten Quartiere im ganzen Land – und der sicherste Labour-Sitz: Fast 85 Prozent haben hier im Dezember für die Opposition gestimmt, nirgendwo sonst geniesst eine Partei so viel Rückhalt in der Bevölkerung.

In der Wahlnacht fiel im Norden Englands ein Labour-Sitz nach dem anderen; Orte, die seit Jahrzehnten stramm für die Arbeiterpartei gestimmt hatten, erschienen auf der politischen Landkarte plötzlich in konservativem Blau. Aber Liverpool ist noch immer tiefrot: Die fünf Sitze mit der grössten Mehrheit für Labour liegen allesamt im Grossraum der Hafenstadt. Was steckt hinter der unbeirrbaren linken Schlagseite der LiverpoolerInnen – und was kann Labour davon lernen?

Gleichgültiges Westminster

Vor hundert Jahren boomte Liverpool. Die Docks, die sich entlang des Mersey-Flusses erstrecken, bildeten einen der grössten Häfen der Welt. Doch der Niedergang hatte damals schon begonnen, und in der Nachkriegszeit setzte er sich rapide fort. Der maritime Handel verlagerte sich in andere Häfen, und in den siebziger Jahren schloss eine Fabrik nach der anderen. Keine britische Stadt entvölkerte sich so schnell wie Liverpool, und in keinem urbanen Zentrum zeigten sich die Symptome der Deindustrialisierung so deutlich. Mitte der achtziger Jahre waren in manchen Stadtteilen vierzig Prozent der Leute arbeitslos.

Aber als die Stadt in sozialen Problemen versank, zuckte man in Westminster mit den Schultern. Dreissig Jahre später bestätigten regierungsinterne Dokumente, was die «Scousers», wie sich die LiverpoolerInnen nennen, schon immer wussten: Die Regierung scherte sich nicht um die Stadt am Mersey. Auf Liverpool solle man keine besonderen Ressourcen verschwenden, sagte einer von Margaret Thatchers Beratern. Er empfahl einen «managed decline», also eine Art Abwicklung der Stadt.

Die Familie von Dan Carden spürte die Folgen am eigenen Leib. «Die letzten sechs Generationen meiner Vorfahren arbeiteten auf den Docks», sagt der Labour-Abgeordnete für Walton. Im schlichten Vorraum seines Büros stehen Bücher aus dem linken Kanon, darunter George Orwell und eine Biografie von Rosa Luxemburg. Carden, ein 33-Jähriger mit frischem Gesicht, ist mit dieser Tradition aufgewachsen.

Als die Liverpooler Docker Mitte der neunziger Jahre einen langwierigen Disput mit ihrem Chef ausfochten, trat sein Vater als einer der führenden Gewerkschafter auf. «Ich war acht Jahre alt, als der Arbeitskampf begann. Oft schwänzte ich die Schule, um mich an die Streikposten zu stellen.» Die Erfahrungen jener Jahre trieben ihn in die Politik und prägen ihn noch heute. So geht es den meisten Scousers.

Verschwundene Gewerkschaften

«Wir haben in dieser Stadt ein politisches Bewusstsein, das anderswo fehlt», sagt Carden. «Zum Beispiel verstehen die meisten Leute, dass man der Presse nicht glauben kann. Wir empfinden eine tiefe Skepsis gegenüber Medienbaronen.» Am deutlichsten zeigt sich dies im Boykott des rechtskonservativen Blatts «The Sun», mit einer Auflage von 1,4 Millionen die meistverkaufte und einflussreichste Zeitung im Land. Tritt man in einen beliebigen Liverpooler Kiosk und fragt nach der Publikation, schlägt einem Unverständnis entgegen. Die «Sun» gibt es in Liverpool nicht: nicht in den Supermärkten, nicht in Corner Shops, nicht in den Cafés.

Der Grund liegt in der Diffamierung nach der Hillsborough-Tragödie von 1989, als 96 Liverpool-Fans bei einer Massenpanik in einem Fussballstadion ums Leben kamen. Auf ihrer berüchtigten Frontseite beschuldigte die «Sun» die Fans, auf die Opfer uriniert und sie bestohlen zu haben – was eine grobe Lüge war. So brachte sie eine ganze Stadt gegen den britischen Boulevard auf. Der Boykott der LeserInnen dauert schon Jahrzehnte, seit 2016 gibt es zudem eine Basiskampagne, die LadenbesitzerInnen dazu anhält, die Zeitung aus dem Sortiment zu verbannen – mit grossem Erfolg. «Total Eclipse of the S*n» nennt sich die Aktion: totale Sonnenfinsternis.

Laut einer Studie der London School of Economics und der Universität Zürich hat der «Sun»-Boykott dazu beigetragen, dass Liverpool deutlich EU-freundlicher ist als andere vergleichbare Städte. Dazu dürften freilich auch die umfassenden Investitionen Brüssels in die Region Merseyside beigetragen haben – über zwei Milliarden Pfund seit den neunziger Jahren.

Dan Carden ist überzeugt, dass die Erinnerung an die Arbeitskämpfe noch immer die Solidarität der EinwohnerInnen stärkt – trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaften wie im Rest des Landes drastisch geschrumpft sind. Hatte Grossbritannien vor vierzig Jahren noch über dreizehn Millionen Gewerkschaftsmitglieder, sind es heute weniger als die Hälfte. Das sei eines der grössten Probleme für die britische Linke, sagt Carden: «Nachdem die Gewerkschaften verschwunden sind, haben die Leute keine Institution mehr, die politische oder wirtschaftliche Orientierungshilfe geben kann.»

Um Labour wieder auf einen grünen Zweig zu bringen, kommt man laut Carden nicht um den Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung herum, zumindest längerfristig. Aber unmittelbar müsse Labour Wege finden, die Lücke zu füllen – und sein Wahlkreis kann als Vorbild dienen. «Wir sind darauf fokussiert, in der Community Präsenz zu zeigen. Anstatt langwierige Sitzungen über interne Prozeduren abzuhalten, konzentrieren wir uns auf Ausbildung und Diskussionen.» So organisiert Labour in Walton kulturelle und politische Events, die Partei versucht, im Alltag der Menschen eine Rolle zu spielen. «Manche reisen von weit her, um an unseren Musikanlässen teilzunehmen. So wird unsere Politik spannend.»

Zudem leistet Labour in Liverpool konkrete Hilfe. Dan Cardens MitarbeiterInnen beispielsweise bieten regelmässig Rechtsberatung an und navigieren LeistungsempfängerInnen durch das komplexe Sozialsystem. Erwerbsunfähigen, die zu einem Interview mit den Sozialbehörden antreten müssen, stellt Carden spezielle Aufnahmegeräte zur Verfügung, sodass sie das Gespräch aufzeichnen können. «Mit diesen Aufnahmegeräten haben die Leute viel bessere Chancen, fair behandelt zu werden», sagt Carden.

Kein Profil in der Krise

Auch der Fussball spielt eine Rolle. Die traditionell linken AnhängerInnen von Liverpool haben zum Beispiel die Kampagne Fans Supporting Foodbanks aufgegleist: Vor jedem Spiel sammeln sie Lebensmittel ein, um sie im Anschluss an Essensausgaben in armen Stadtquartieren zu schicken. Einer der Gründer der Gruppe, der Labour-Politiker Ian Byrne, wurde im Dezember zum Abgeordneten für den Wahlkreis Liverpool West Derby gewählt. Als die Coronakrise ausbrach und Fussballspiele abgesagt wurden, starteten die Fans kurzerhand eine Spendenaktion, damit die Foodbanks nicht schliessen müssen.

Im ganzen Land haben solche Basisgruppen in beeindruckender Weise auf die Pandemie reagiert: Bislang haben sich Leute in mehreren Tausend Gemeinden zusammengetan, um in ihren Communitys auszuhelfen, etwa indem sie Einkäufe für Hilfsbedürftige besorgen. Die Corbyn-nahe Bewegung Momentum hat eine interaktive Karte erstellt, auf der Interessierte Gruppen in ihrem Quartier finden.

Im Gegensatz dazu zeigen die drei KandidatInnen für die Labour-Führung, die am Samstag gekürt wird, in der Coronakrise kaum Profil. Favorit ist der etwas farblose frühere Staatsanwalt Keir Starmer, unter Corbyn verantwortlich für die Brexit-Politik der Partei. Zwar hat er versprochen, den linken Kurs der Corbyn-Ära fortzuführen, aber von allen AnwärterInnen ist er dem Establishment am nächsten – ob er die Beziehung zur Basis pflegen wird, ist fraglich.

Auch inmitten der Pandemie hält sich Starmer mit Kritik an der Regierung zurück. Dabei wäre jetzt die Zeit, auf einer solidarischen Politik zu bestehen und entsprechende Forderungen zu stellen. Schliesslich zeigt sich derzeit, dass viele der ehemals belächelten Vorschläge, die Labour in den vergangenen Jahren gemacht hat, durchaus vernünftig sind: Gratisinternet für alle, strengerer MieterInnenschutz, nachhaltige Finanzierung des Gesundheitsdiensts.