Naher Osten: Wo der Lockdown Normalzustand ist

Nr. 16 –

Bislang sind die Krisenregionen im Nahen Osten von der Coronapandemie nur punktuell betroffen. Für die Bewältigung fehlt es schon jetzt an allem, auch an internationaler Unterstützung. Ein Vergleich zwischen Syrien, dem Jemen und Palästina.

«Wenn alle Bewohner des Gazastreifens zwei Meter Abstand voneinander halten müssten, müsste das Gebiet zehnmal grösser sein»: Das Flüchtlingslager Al-Schati nahe Gaza-Stadt. Foto: Mohammed Saber, Keystone

Regierungen schliessen ihre Grenzen, spannen milliardenschwere Rettungsschirme auf, und weltweit wird der Imperativ der räumlichen Distanzierung gepredigt. Doch für Millionen von Menschen ist dies nicht mehr als eine absurde Vorstellung. Während sich alle Welt mit Massnahmen zur Eindämmung der Coronakrise beschäftigt, finden die Auswirkungen, die eine Ausbreitung des Virus in Krisen- und Konfliktgebieten haben kann, erst wenig Beachtung. Dabei werden die ohnehin schon Verwundeten jetzt noch verwundbarer.

Wo die Menschen eng aufeinander leben, könnte sich das Virus rasant ausbreiten, heisst es in einer Analyse der International Crisis Group über die Folgen der Pandemie in Konfliktregionen. Denn dort sind ihr die Menschen schutzlos ausgeliefert und werden im Notfall nirgends aufgefangen. In Gegenden mit eingeschränkter medizinischer Versorgung drohen dann verheerende Konsequenzen. Besonders betroffen von der aktuellen Situation sind laut der nichtstaatlichen Organisation vor allem Frauen, die in den Konfliktregionen die Mehrheit der Vertriebenen ausmachen.

Ausser Elend alles Mangelware

Ein Blick auf Syrien, den Jemen und Palästina zeigt, dass unterschiedliche Konfliktregionen im Kampf gegen Covid-19 vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Die Zivilbevölkerung ist seit Jahren mit militärischer Gewalt, Besatzung und Korruption konfrontiert. Der Gazastreifen ist seit dreizehn Jahren abgeriegelt, in Syrien hat gerade das zehnte Kriegsjahr begonnen, und der Jemen-Konflikt, laut der Uno die grösste humanitäre Katastrophe der Gegenwart, dauert seit fünf Jahren an. Die medizinische Grundversorgung ist in diesen Ländern nicht gesichert; ausser Elend ist hier alles Mangelware.

Die hierzulande praktizierten Lösungsansätze gegen die Coronapandemie werden in diesen Ländern mit ihren Hunderttausenden von Vertriebenen nicht greifen. Sogar regelmässiges Händewaschen ist in den Flüchtlingslagern eine Unmöglichkeit. Im Al-Hol-Camp in Syrien leben rund 70 000 Geflüchtete, darunter Tausende Angehörige der Terrormiliz Islamischer Staat. 1,5 Millionen PalästinenserInnen leben im Libanon, in Gaza und im Westjordanland verteilt auf 58 Flüchtlingslager. Im Jemen zählt die Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR 3,6 Millionen intern Vertriebene – und die Krisen dauern ungeachtet der Coronaausbreitung an.

Als eines der letzten arabischen Länder meldete Syrien Ende März die erste Coronavirusinfektion. Wo genau die betroffene Frau starb, liess das Gesundheitsministerium unerwähnt. Die Seuche werde auf verwundbare Gemeinschaften wie jene in Syrien «zerstörerische Auswirkungen» haben, mahnte Uno-Nothilfekoordinator Mark Lowcock im Weltsicherheitsrat. Im Gazastreifen wurden bisher ein Dutzend Fälle gemeldet, im Jemen gab es nun die erste Meldung über einen Coronabetroffenen.

Insgesamt 730 Beatmungsgeräte

«Dort, wo es so gut wie keine medizinische Versorgung gibt, ist Prävention entscheidend. Aber Massnahmen wie räumliche Distanzierung sind in Konfliktländern praktisch unmöglich», sagt Jeremy Stoner, Direktor von der Kinderrechtsorganisation Save the Children für den Nahen Osten in einer Mitteilung. «Wenn alle Bewohner des Gazastreifens zwei Meter Abstand voneinander halten müssten, müsste das Gebiet zehnmal grösser sein. In Nordsyrien haben die Menschen schon ohne räumliche Distanzierung nicht genügend Unterkünfte. Im Jemen, wo rund zwei Millionen Kinder an akuter Unterernährung leiden, müssten erst einmal Lebensmittel verteilt werden, bevor man daran denken kann, die Menschen voneinander fernzuhalten.»

Laut Save the Children könnten in den Krisengebieten im Nahen Osten rund fünfzehn Millionen Kinder und ihre Familien nicht mit lebensrettenden Massnahmen rechnen. Die Organisation nennt Zahlen, die erschreckend sind: In Nordsyrien, im Gazastreifen und im Jemen gebe es insgesamt weniger als 730 Beatmungsgeräte und 950 Betten auf Intensivstationen. Dabei sind neben einem Lockdown die medizinische Infrastruktur, die Anzahl verfügbarer Beatmungsgeräte sowie der flächendeckende Zugang zu medizinischer Versorgung ausschlaggebende Faktoren für eine effektive Bekämpfung von Covid-19.

Diese Einschätzung bestätigt der Mediziner Aed Yaghi, Direktor der Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Die Graswurzelorganisation unterstützt das prekäre Gesundheitssystem Palästinas. Über die momentane Situation in Gaza sagt Yaghi: «Es fehlt an allem: an medizinischem Personal, an Betten, an Beatmungsgeräten und an PCR-Tests, die benötigt werden, um das Virus zu diagnostizieren.»

Um trotz dieser Umstände bestmöglich gegen Covid-19 gewappnet zu sein, habe die PMRS verschiedene Massnahmen ergriffen: «In einem ersten Schritt starteten wir eine breit angelegte Informationskampagne, um die Bevölkerung über die Gefahren der Pandemie zu informieren. Zusätzlich verteilen wir Hygienekits, zuerst an Personen mit Beeinträchtigungen, Ältere und marginalisierte Gemeinschaften, dann an die gesamte Bevölkerung.»

In einem zweiten Schritt würden sie dann wo nötig medizinische Unterstützung leisten. Bis jetzt habe es weder von Israel noch von der internationalen Gemeinschaft nennenswerte Unterstützung gegeben, so Yaghi weiter. «Wir fordern das Ende der Blockade und der israelischen Besatzung. Zudem brauchen wir dringend medizinische Güter und effektivere Unterstützung für unsere Arbeit», fügt er hinzu.

Nordostsyrien ist abgeschnitten

ExpertInnen weisen darauf hin, dass der internationale Lockdown die humanitäre Arbeit in Krisengebieten erschwert. In einem Interview auf Al-Jazeera sagt Joelle Bassoul von Save the Children, dass Reisebeschränkungen ihre Arbeit negativ beeinflussten. Oft fehle es bereits an der grundlegenden Infrastruktur, an ausreichend Nahrung, einem Dach über dem Kopf und sauberem Wasser. Nun leide zusätzlich die Mobilität von medizinischem Personal, wenn dieses nicht ohnehin schon ins Ausland geflohen sei.

Sowohl Syrien, der Jemen als auch Palästina sind bereits seit Jahren in einer Art Lockdown gefangen. Die autonome Region Nordostsyrien leidet unter Restriktionen, die von einer stillen Allianz zwischen der Türkei, dem syrischen Regime von Baschar al-Assad und der irakischen Regionalregierung aufrechterhalten werden. Das Embargo führte in der Vergangenheit immer wieder zu Versorgungsengpässen und verhindert eine selbstbestimmte Entwicklung Nordostsyriens.

Am 10. Januar endete auf Betreiben Russlands zusätzlich das Uno-Mandat für den Al-Yarubija-Grenzübergang, über den notwendige medizinische und andere Uno-Hilfsgüter die Region erreichten. Seither gelangen sämtliche Uno-Hilfsgüter für Syrien direkt in Gebiete, die vom Al-Kaida-Ableger Haiat Tahrir al-Scham oder vom Assad-Regime kontrolliert werden. Zudem ist die autonome Region Nordostsyrien international nicht anerkannt und erhält selbst in Anbetracht der Coronapandemie keine direkte Unterstützung von internationalen Institutionen.

Cholera im Jemen

Die nordsyrische Medien- und Rechercheorganisation Rojava Information Center schreibt in einem Anfang April veröffentlichten Bericht über die aktuelle Situation: «Da die Weltgesundheitsorganisation der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens direkte Unterstützung verweigert, ist sie auf ihre eigenen dürftigen Ressourcen angewiesen. Darüber hinaus ist sie von der Hilfe abhängig, die von der Assad-Regierung kontrolliert wird und von der nur wenig in den Nordosten gelangt.»

Aus diesem Grund hätten die in Nordostsyrien arbeitenden NGOs keinen Zugang zu internationalen Unterstützungsgeldern; zahlreiche humanitäre MitarbeiterInnen hätten mittlerweile das Land verlassen. Auch der Gazastreifen ist durch die israelisch-ägyptische Blockade wirtschaftlich und physisch fast komplett isoliert. Benötigte medizinische Güter, Medikamente oder Baumaterial können nicht oder nur unzureichend eingeführt werden. Die Stromversorgung ist ohnehin schon dürftig; selbst Spitäler haben nur zwischen vier bis sechs Stunden Elektrizität pro Tag.

Ähnlich ist die Situation im Jemen, wo unter Führung Saudi-Arabiens seit 2015 Luft-, Wasser- und Landwege blockiert werden. Die seit Oktober 2016 auch von den USA unterstützte Wirtschaftsblockade führte zu einer gravierenden Hungersnot, und die Cholera breitete sich im Land aus; rund 500 000 Personen sind davon betroffen. Das sind epidemische Ausmasse, obwohl die Cholera leicht behandelbar wäre. Doch die Schiffe der von Saudi-Arabien angeführten Koalition blockierten selbst Schiffe, die keine Waffen geladen hatten, sondern humanitäre Güter zur Bekämpfung der Krankheit in den Jemen bringen wollten.

Ein Hoffnungsschimmer

Immerhin einen Lichtblick gibt es. Wegen des Virus kündigte vor wenigen Tagen das Militärbündnis überraschend eine zweiwöchige Waffenpause im Jemen an. «Wir bereiten den Boden für den Kampf gegen Covid-19», sagte laut Medienberichten ein Vertreter der Militärkoalition. Die Angst vor dem Virus könnte endlich einen Weg für Gespräche zwischen der Regierung und den Huthi-Rebellen ebnen. Solche Massnahmen sorgen für kurzzeitige Erholung und bieten der Bevölkerung betroffener Regionen die Möglichkeit, sich auf die bevorstehenden Herausforderungen vorzubereiten.

Die International Crisis Group schreibt gar, es sei durchaus möglich, dass Covid-19 positiv auf Konflikte und Krisenregionen einwirken könnte: «Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass die Pandemie einige internationale Krisen verschlimmert, kann sie gleichzeitig in anderen Krisen Raum für Verbesserungen schaffen», so die PolitikbeobachterInnen. In der Vergangenheit hätten Krisen gar Konfliktparteien an einen Tisch gebracht. Sie hoffen nun auf eine «ähnliche Dynamik in einigen Konflikten angesichts von Covid-19».

Der Uno-Plan

Mit einem «Global Humanitarian Response Plan» wollen die Vereinten Nationen die Pandemie in den Ländern bekämpfen, die ohnehin schon grosse Probleme haben. «Da bisher nur wenige Fälle in Ländern gemeldet wurden, die bereits von humanitären Krisen betroffen sind, erwarten wir einen Anstieg dieser Zahlen», hiess es bei der Präsentation des Plans Ende März in New York.

Der Plan sieht vor, mit Geldern der internationalen Gemeinschaft in der Höhe von zwei Milliarden US-Dollar Länder mit schwachen Gesundheitssystemen in Asien, Afrika und dem Nahen Osten zu unterstützen. Unter anderem sollen das Kinderhilfswerk Unicef und die Flüchtlingsorganisation UNHCR den Zugang zu Handwasch- und Hygienemöglichkeiten verbessern. Die Weltgesundheitsorganisation WHO soll Schutzausrüstungen wie Masken und Schutzbrillen sowie medizinische Geräte bereitstellen.