Literatur: Freiwillige Unterwerfung
Eine «Lehrstunde des Antifaschismus» nennt die «New York Times» das Buch, und Roberto Saviano («Gomorrha») hält es für ein Meisterwerk: Antonio Scuratis Roman «M. Der Sohn des Jahrhunderts», ein preisgekrönter Bestseller, der 2019 in Italien erschien und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Auf den mehr als 800 Seiten über den faschistischen Duce, die nur den ersten Teil einer Trilogie ausmachen, unternimmt Scurati einiges, um seine LeserInnen nicht zu langweilen. Benito Mussolinis Aufstieg zur Macht schildert er als Abenteuergeschichte. Beginnen lässt er sie am 23. März 1919 in Mailand mit der Gründung der faschistischen Kampfbünde. Sie endet – vorläufig – am 3. Januar 1925: Die seit Ende Oktober 1922 amtierende faschistische Regierung hat ihre Macht gefestigt, Mussolini ist mit sich zufrieden. «Niemand wollte sich das Kreuz der Macht auf die Schultern laden. So nehme ich es.»
Die fiktive Selbstreflexion des Protagonisten wirkt verstörend, nicht nur an dieser Stelle. Dabei ist sich Scurati der Gefahr bewusst, unfreiwillig zur Heroisierung Mussolinis beizutragen, wie er im Interview mit der linken Tageszeitung «Il manifesto» erklärt. Er habe sich an die Form des Romans gewagt, um an einer «Erneuerung» des Antifaschismus mitzuarbeiten.
Abgesichert ist seine Erzählung durch unzählige penibel recherchierte zeitgenössische Texte, aus denen er Ausschnitte dokumentiert – etwa die Meinung des US-Botschafters Richard Washburn zum faschistischen Marsch auf Rom: «Wir erleben hier eine schöne Revolution junger Menschen. Keine Gefahr, sie ist bunt und voller Begeisterung: Wir haben einen Mordsspass.» Dass die angebliche Machtergreifung nur dank der Förderung durch die traditionellen Eliten und der freiwilligen Unterwerfung der liberalen Demokraten möglich wurde, arbeitet Scurati überzeugend heraus: Deren Angst vor der rechten Gewalt war die «einzige scharfe Waffe» der militärisch hoffnungslos unterlegenen faschistischen Truppen.
Antonio Scurati (Autor): M. Der Sohn des Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta. Stuttgart 2020. 830 Seiten. 44 Franken