Kultur und Politik: Den Horizont aufreissen

Nr. 20 –

«Ein Liebesbrief für die Ohren» – so tönte es letzte Woche aus der PR-Abteilung der New York Public Library. Die Bibliothek, einer der grössten Gedankenspeicher weltweit, veröffentlichte eine Playlist mit Alltagsgeräuschen von New York vor dem Lockdown. Eigentlich ein unschuldiges Geschenk, könnte man meinen, eine nostalgische Hommage an die nun zur Geisterstadt mutierte Metropole. Doch die Aktion ist auch ein Sinnbild: Was wird uns vorgesetzt, um die Krise erträglicher zu machen? Der Lärm von gestern. Was macht das mit der Zukunft?

Gerade jetzt, da die Wirtschaft wieder hochgefahren wird, fällt auf, wie bestürzend einfallslos alles vonstattengeht. Hatten nicht eben noch viele betont, dass nun so manches anders werden müsse? Bessere Löhne für mies bezahlte ArbeiterInnen, mehr Gerechtigkeit, anständige Arbeitsbedingungen. Solidarität als wohl wichtigster linker Leitgedanke war plötzlich in aller Munde. Und jetzt? Wird oft schmallippig auf die Pflegeinitiative und die Konzernverantwortungsinitiative verwiesen, die bereits lange vor Corona auf den Weg gebracht worden waren.

Die bürgerliche Seite sprüht zwar auch nicht gerade vor Originalität. Aber sie erweist sich als äusserst schlagkräftig. Die staatlichen Milliarden werden geschickt in die alten Töpfe gelenkt. Für die Luftfahrt wurden – ohne Umweltauflagen – rund zehnmal höhere À-fonds-perdu-Beiträge bereitgestellt als für die gebeutelten Kitas. Auch soll uns nun plötzlich nur noch die drohende Wirtschaftskrise Angst machen. «Jetzt gilt es, die Ausgabenkurve abzuflachen», titelt etwa die «SonntagsZeitung». Im «Echo der Zeit» war von «verletzlichen Volkswirtschaften» die Rede. Andere Bedenken oder gar Visionen scheinen wie weggeblasen.

Seltsam unterbelichtet bleibt im Ganzen die Rolle der Kultur. Auch hier arbeiten viele am Rande des Existenzminimums, auch für die Kultur werden 280 Millionen Franken bereitgestellt im Coronabudget des Bundes. Konkret bedeutet das für «Kulturschaffende» allerdings oft: Formulare ausfüllen und Belege zusammensuchen – um am Ende ein paar Hundert Franken zu erhalten. Als KünstlerIn Erwerbsausfall zu beweisen, ist nicht einfach. Dabei wäre es kaum kühn zu behaupten, dass Kultur systemrelevanter ist als Billigflüge. Dazu kommt: Wie kein anderes Metier handelt die Kultur von und mit der Vorstellungskraft. Sie könnte uns also dabei helfen, den Horizont aufzureissen. Bevor dieser wieder komplett mit den Ideen von vorgestern verstellt ist.

Kultur schafft eine Gegenwelt zu den Ansteckungskurven, Schuldenberechnungen und zur eiskalten Rationalität von ökonomischen Lord Voldemorts wie Reiner Eichenberger, die uns weismachen wollen, ein paar tote Alte weniger seien die kollektiven Schutzmassnahmen nicht wert. Auch Kultur handelt von Leben und Tod, aber sie tut das in Gestalt von Geschichten und Motiven, die Ungewissheit und Versehrtheit zulassen. Sie ist die Fachreferentin für alle Fragen, die über reine Zahlen hinausgehen.

Bei alledem ist Kultur natürlich auch ein Wirtschaftsfaktor. In der Schweiz, in Deutschland und Frankreich gehen alljährlich mehr Leute ins Theater als ins Fussballstadion. Die sogenannte Kreativökonomie beschäftigt schweizweit bis zu einer halben Million Menschen. Und wer noch immer nicht überzeugt ist, der oder die soll sich kurz besinnen, wie die vergangenen Wochen auszuhalten gewesen wären ohne Musik, ohne Filme und Serien, ohne Bücher und Bilder.

Damit sie weiterhin solche rettenden Paralleluniversen für uns erfinden können, müssen KünstlerInnen von ihren Existenzsorgen befreit werden. Überhaupt: Welche ungeahnten Kräfte liessen sich wohl freisetzen, wenn man zur Abwechslung mal viel Geld in FantasiearbeiterInnen und Prekäre investieren würde? Welche Alternativen zum herrschenden System würden plötzlich denkbar?

Der abgedroschene Satz, dass heute die Welt von morgen gestaltet wird, war selten so wahr wie jetzt. Wer möchte in einer Welt leben, die sich ein Albert Rösti oder ein Reiner Eichenberger erdacht haben?