Durch den Monat mit Meral Kaya (Teil 1): Wie hat der Streik der Frauen Ihre Forschung beeinflusst?

Nr. 23 –

Meral Kaya beschäftigt sich mit Geschlechterfragen und Rassismus innerhalb der feministischen Bewegung. Sie findet es wichtig zu verstehen, warum es auch in emanzipatorischen Bewegungen Diskriminierung gibt, und fordert mehr Kritikfähigkeit – auch in Bezug auf den Frauenstreik.

Meral Kaya: «Ganz viel Wissen wird auf der Strasse geschaffen. Die Wissenschaft nimmt dieses dann auf, schreibt es fest und lässt es in ihre Analysen einfliessen.»

WOZ: Frau Kaya, wo waren Sie am 14. Juni 2019?
Meral Kaya: Da befand ich mich zu Forschungszwecken in Quebec. Den feministischen Streik in der Schweiz habe ich deshalb in den sozialen Medien verfolgt. Ich war sehr beeindruckt ob der hohen Anzahl Frauen auf der Strasse.

Was heisst das für Sie als Geschlechterforscherin?
Am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) an der Universität Bern, wo ich arbeite, haben wir neben der Grundlagenforschung auch den Anspruch, Lösungsvorschläge und Empfehlungen herauszugeben und eine gesellschaftliche Veränderung in eine bestimmte Richtung anzustossen und mitzutragen. Wichtig dabei ist, dass wir dem Gegenüber, also dem Forschungsobjekt, auch eine Rolle in der Wissensgenerierung zusprechen. Ganz viel Wissen wird auf der Strasse geschaffen. Die Wissenschaft nimmt dieses dann auf, schreibt es fest und lässt es in ihre Analysen einfliessen.

Der feministische Streik ist ein gutes Beispiel für die gegenseitige Befruchtung von Theorie und Praxis. Der Streik bezog sich ja auch auf Analysen aus der feministischen Theorie. Diese wiederum vermischten sich mit Arbeitskampfperspektiven und weiteren Ansätzen wie zum Beispiel antirassistischer Kritik. Ich verfolge in meiner Forschung einen postkolonialen Ansatz.

Wo liegt da der Bezug zum Feld der Geschlechterforschung?
Der postkoloniale Ansatz geht davon aus, dass in der Kolonialzeit gewachsene Machtstrukturen bis heute wirken – trotz der formellen Unabhängigkeit vormals kolonisierter Gebiete. Der Kolonialismus war sehr bedeutsam für die Entwicklung einer bürgerlichen, von Weissen geprägten Gesellschaftsordnung. Er ist mit der Sexualisierung und Ausbeutung von rassifizierten Körpern eng verbunden. Das zeigt sich bis heute, weshalb Geschlechterforschung und antirassistische Kritik eng verzahnt sind.

Stimmt der Eindruck, dass die Verflechtung von Geschlechterforschung und feministischer Praxis besonders ausgeprägt ist?
Ja, viele Geschlechterforscherinnen sind auch aktivistisch tätig. Das ist im Universitätsbetrieb nicht unbedingt üblich, in der Geschlechterforschung hingegen nicht selten – auch wenn es Geschlechterforscherinnen gibt, die diese Verbindung ablehnen. Rund um den Frauenstreik haben sich viele Forscherinnen engagiert. Über den Streik hinaus manifestierte sich das auch in publizistischer Weise, zum Beispiel auf dem Gender Campus, der Onlineplattform für Gender Studies in der Schweiz, wo viele Texte rund um den Streik und die feministische Bewegung veröffentlicht wurden.

Inwieweit hat der Frauenstreik vor einem Jahr Ihre Forschung beeinflusst?
Angesichts der vielen verschiedenen Strömungen und emanzipatorischen Bewegungen, die an diesem Tag präsent waren, stellt sich für die Geschlechterforschung natürlich die Frage, welches Wissen in der Folge bestehen bleibt. Entscheidend dafür ist, welches Wissen sichtbar ist – und welches ignoriert, marginalisiert oder aktiv ausgeschlossen wird. Der feministische Streik war ein Ort der Wissensproduktion, wobei dieses Wissen je nach Kategorie und Herkunft unterschiedlich wahrgenommen und weiterverbreitet wurde. Rückblickend zeigt sich nun, dass es auch in emanzipatorischen Bewegungen wie dieser Ungleichheitsstrukturen und Diskriminierung gibt. Darüber müssen wir reden.

Können Sie etwas konkreter werden?
Konkret geht es um den Ausschluss und die Diskriminierung von Musliminnen am Frauenstreik. Ein Artikel im «Blick», der über rassistische Erfahrungen von muslimischen Frauen am Streik berichtete, hat mich damals auf das Thema aufmerksam gemacht. Weil ich bei meiner Recherche in anderen Medien keine zusätzlichen Beiträge darüber fand, begann ich, selber zu suchen.

Wie gingen Sie dabei vor?
Ich fragte bei einer Bekannten nach, ob sie ebenfalls Diskriminierung erlebt habe. Sie hat mit den Foulards Violets, einer Gruppe feministischer Muslimas aus Genf, am Streik teilgenommen. Und siehe da – sie bestätigte, von anderen Frauen an der Demo in Genf rassistisch beleidigt worden zu sein: «Wenn euch die schweizerischen Gepflogenheiten nicht passen, dann kehrt doch zurück in den Iran», hiess es unter anderem.

Handelte es sich dabei um einen Einzelfall?
Als ich in der Folge an einer Fachtagung einen Vortrag zu diesem Thema hielt, kamen zwei Frauen unabhängig voneinander auf mich zu – eine aus Basel, eine aus Zürich. Beide erzählten mir, dass Ähnliches auch in ihren Städten passiert sei. Ein paar Tage später hörte ich dann noch von einem Vorfall in Bern. Dabei zeigte sich: Erst als das Thema öffentlich aufgegriffen wurde, ergab sich für Betroffene die Möglichkeit, darauf aufmerksam zu machen. Schnell wurde klar, dass es in allen grösseren Städten ähnliche Vorfälle gab.

Meral Kaya (36) ist Geschlechterforscherin und lebt in Basel. Nächste Woche erzählt sie über die Hintergründe von antimuslimischem Rassismus am Frauenstreik und über ihre eigenen Rassismuserfahrungen als Jugendliche in Basel.