EU-Wiederaufbaufonds: Weil gute Kaufleute sparen
Während Frankreich und Deutschland in Zeiten von Corona für europäische Solidarität plädieren, stellen sich die Niederlande – als Teil der «geizigen Vier» – quer. Was ist mit dem einstigen Musterschüler der Europäischen Union passiert?
Im Schweisse seines Angesichts schraubt der Blonde im Blaumann mit einem gigantischen Schlüssel am Zahnrad herum, das die Ökonomie am Laufen hält. Auch die emsige Geschäftsfrau schont sich nicht, die im Hintergrund telefonierend zum nächsten Meeting eilt. Währenddessen daddelt eine brünette Bikinidame am Pool auf Social-Media-Kanälen herum, während ein Schnauzbartdandy mit Goldschmuck im Café den Tag geniesst. «Keinen Stuiver extra nach Südeuropa!» steht darunter auf der Titelseite der aktuellen Ausgabe der niederländischen Wochenzeitung «Elsevier».
Ein Stuiver ist die alte Fünfcentmünze aus der – seligen, wie die Referenz hier ausdrücken will – Zeit vor dem Euro. Im dazugehörigen Artikel macht «Elsevier», von Haus aus konservativ, marktliberal und mit notorisch rabiater Rhetorik, kurzen Prozess mit dem 500-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds, den Emmanuel Macron und Angela Merkel Mitte Mai vorschlugen – und den die Wochenzeitung kurzerhand als «pervers» abtut. Denn: «Südeuropäische Länder sind keineswegs arm und haben genug Geld oder Zugang zu Geld», nicht zuletzt weil der Norden «supersolidarisch» sei.
Die treusten Vasallen der Austerität
Nun stösst durchaus vielen NiederländerInnen die Propaganda besagter Zeichnung – mit ihren vermeintlich spielerisch-rassistischen Elementen – auf. Zugleich aber findet sich bis in linksliberale Kreise Zustimmung für die Idee, dass man sich den eigenen Wohlstand auch sauer verdiene, Italiener oder Griechinnen dagegen angeblich andere Prioritäten hätten. Wie weit verbreitet diese Ansicht ist, zeigte sich etwa auch 2017, als der damalige Vorsitzende der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, notabene Sozialdemokrat, bemerkte: «Ich kann nicht mein Geld für Alkohol und Frauen ausgeben und Sie danach um Unterstützung bitten.»
Neu sind sie demnach nicht, die niederländischen Ressentiments gegen den vermeintlich verschwenderischen Süden. In der Eurokrise waren Dijsselbloem und Premier Mark Rutte Berlins treuste Vasallen auf der Achse der Austerität. Nach dem deutschen Sinneswandel zur Coronahilfe, der in den Niederlanden ausführlich in Medien diskutiert wurde, stehen Rutte und sein Finanzminister Wopke Hoekstra nun exponiert da, wenn auch nicht alleine, sondern als Galionsfiguren der sogenannten «sparsamen» beziehungsweise «geizigen Vier» – im Verband mit den Regierungen Österreichs, Dänemarks und Schwedens.
Deren Opposition gegen den Merkel-Macron-Plan ist eine Fortsetzung des Widerstands gegen einen grösseren EU-Haushalt. Seit dem gescheiterten Gipfel im Februar schwebt dieser Konflikt über der Union. Die Coronakrise hat ihn weiter verschärft. Rutte, als Premier seit 2010 im Amt, kündigte unlängst einen eigenen Plan zur Coronabekämpfung an, als Gegenmodell sowohl zum Merkel-Macron-Vorstoss als auch zum Konzept der EU-Kommission, das zusätzlich zu den 500 Milliarden Euro für Zuschüsse weitere 250 Milliarden an Krediten vorsieht. Ruttes Begründung: «Hilfe für den Süden ist im wirtschaftlichen Interesse der Niederlande. Aber im Gegenzug darf man auch um etwas bitten.»
Der erste Donnerschlag
In Südeuropa ist die Reputation Den Haags merklich beschädigt. Im Rest des Kontinents fragt man sich, was aus dem vermeintlichen Mustermitgliedsland geworden ist, als das die Niederlande lange galten. Man übersieht dabei: Die niederländische Ablehnung des EU-Grundgesetzes ist diese Woche genau fünfzehn Jahre her – sie war der erste Donnerschlag am damals noch blauen Himmel Europas. Seither scheint eine gewisse Geringschätzung der EU im politischen Mainstream zum guten Ton zu gehören. Gerade Rutte, Mitglied der rechtsbürgerlichen, streng marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), lässt seit Jahren kaum eine Gelegenheit aus, um Stellung gegen eine weitere europäische Integration zu beziehen.
Sein Rückhalt in der Bevölkerung basiert auch auf deren Selbstverständnis als nüchterne Kaufleute. Im Alltag sammelt man in den Niederlanden mit Verve Treuepunkte und Discountgutscheine. Man erwärmt sich für Apps, um beim Restaurantbesuch die Rechnung teilen zu können, und im Fall wirtschaftlicher Not spart man sich eben mit einschneidenden Massnahmen gesund. Folglich verabreichte die VVD-geführte Regierung der Bevölkerung zur Eurokrise auch die schmerzhafte Rosskur der Austerität. Mit dem Ergebnis: Die VVD gewann die letzten Wahlen 2017 erneut und liegt bis heute in Umfragen klar vorne.
Zur kommenden Parlamentswahl im März 2021 dürfte die wachsende Abneigung gegen Europa ein landesweites Podium bekommen. Und sie zeigt sich etwa dadurch, dass gemäss der aktuellen Entwicklung eher der österreichische Kanzler Sebastian Kurz als Angela Merkel zum strategischen Partner werden könnte. Die proeuropäische, progressive Wochenzeitschrift «Vrij Nederland» blickt entsprechend voraus: «Mit jedem Schritt europäischer Einigung nimmt die Spannung zwischen der Notwendigkeit eines enger verbundenen Europas und nationalen Gefühlen von Widerstand gegen diesen Prozess zu.»