Graphic Novel: Wo die runden Scheiben wuchern

Nr. 25 –

Hier ist die Wildnis von Geometrie befallen: «Dämmerung» von Jérémy Perrodeau ist ein kosmischer Ökothriller, in dem Ecken und Kanten einen hochgradig psychedelischen Zauber entfalten. Grandios.

Gestörte Ökologie: Die Figuren bei Jérémy Perrodeau wirken wie kosmische Höhlenmalerei (grosse Ansicht der Comicseite).

Ist es ein Virus? Oder was sind das für scharfkantige Geschwüre, die in der Wildnis ihr Unwesen treiben? Selbst Karl, einer von zwei Androiden im Suchtrupp, findet in seinen Datensätzen keinerlei Anhaltspunkte, als er eine Stichprobe der rätselhaften Materie abtastet. So etwas habe er noch nie gesehen: «Der molekulare Aufbau ist vollkommen gestört.»

Die Natur spielt verrückt auf diesem Planeten, die Ökologie ist augenscheinlich aus dem Lot in der Graphic Novel «Dämmerung» des jungen Franzosen Jérémy Perrodeau. Erste Anzeichen entdeckt ein Parkwächter namens Lincoln in den Wäldern, wo die Baumstämme plötzlich von farblosen, scheibenförmigen Fremdkörpern durchsetzt sind: «Unbekannte Kontamination. Wucherungen, die im Inneren der Elemente wurzeln.» Auf seiner Erkundungstour stösst Lincoln immer weiter zum mutmasslichen Zentrum der Störung vor, und je näher er kommt, umso vielfältiger werden die Deformationen – einzig die Tiere scheinen davon nicht betroffen. Dabei bleiben die Geschwüre völlig geometrisch: Zylinder, kreisrunde Scheiben und immer wilder wuchernde Polyeder. Ganz so, als sei die Natur hier von konkreter Kunst gehackt worden: Bis auf die Tierwelt ist die ganze Biosphäre von Abstraktion verseucht. Oder verzaubert?

Schöpfung samt Urknall

Das Unerklärliche, das unser irdisches Bewusstsein übersteigt, kommt hier also buchstäblich mit Ecken und Kanten – Eigenschaften, die man gewöhnlich nicht im Einflussbereich des Psychedelischen sieht. Streng abgezirkelte Geometrie gilt als Inbegriff der Nüchternheit, psychedelisch ist das Amorphe, wo die Formen und Farben zerfliessen. In der Bildsprache von Jérémy Perrodeau kollabieren solche Gegensätze: Hier fliesst nichts ineinander, die Farben schon gar nicht; die verschiedenen Erzählebenen in «Dämmerung» sind strikt monochrom gestaltet, erst in Gelb-, dann in Rot-, schliesslich in den Blautönen, die einen utopischen Neuanfang grundieren.

Verblüffend daran: Gerade in seiner geometrischen Abstraktion entfaltet Perrodeaus futuristisches Märchen einen hochgradig psychedelischen Zauber. Das beginnt schon im Prolog, wo der Zeichner auf wenigen Seiten und ohne Worte so etwas wie einen aeronautischen Schöpfungsmythos vor uns entfaltet. Eine schlichte weisse Kugel fliegt da wie auf Autopilot über leeres Land und fräst eine Feuerschneise in die Steppe, dann segelt dieses Flugobjekt über die Hügel und bestreut sie mit Sand, auf dass sie Wüste werden. Schliesslich verwandelt sich das Ding in einen Würfel, der Wasser übers Land giesst, bis er sich zuletzt in einer Art Urknall zu einer Unzahl winziger Würfelchen versprengt – Saatgut, das offenbar organisches Leben auf diesen vormals scheinbar toten Planeten bringt.

Was es mit diesem Schöpfungsakt auf sich haben könnte, erschliesst sich erst viel später, als mit der Ökologie auch die Zeit aus den Fugen gerät. Da wird dann auch klar, dass wir es bei «Dämmerung» nicht einfach mit der abgefahrenen Ökofabel eines Geometrienerds zu tun haben. Nach und nach zeigt sich, dass in dieser künstlich erzeugten Umwelt auch imperiale Fantasien am Werk sind. Womöglich wird dieser Planet als Back-up vorbereitet, weil der alte vor dem Kollaps steht oder schon unbewohnbar wurde? Sicher ist: Um ein Land für die Kolonisation zu sichern, muss es zuerst gesäubert werden. Und vor dem Wunder der Schöpfung steht immer schon eine gewaltsame Auslöschung.

Origamis aus dem All

So ist es auch vollkommen schlüssig, dass die menschlichen Figuren in «Dämmerung» allesamt so rudimentär, fast stereotyp gezeichnet sind: Sie erinnern an die figurativen Darstellungen von Höhlenmalereien. Die kosmische Zukunftsvision, die Jérémy Perrodeau hier entwirft, ist nämlich untrennbar mit einem Bewusstsein für die blutigen Konstanten der Menschheitsgeschichte verbunden: Expansionskriege, Genozid. Die Verbrechen an älteren Kulturen, sie bleiben dem Land eingeschrieben. Die Vorkommnisse in diesem Buch mögen also noch so fantastisch und abgedreht sein, sie gründen auf einem durchaus irdischen Geschichtsbewusstsein.

Auf der Bildebene zeigt sich dabei immer wieder das Flair des 32-jährigen Zeichners für einen Technofuturismus der elementaren Formen. Die drei Flieger etwa, mit denen der Suchtrupp die Ausbreitung der Wucherungen aus der Luft auskundschaften will, sehen aus wie aus weissem Papier gefaltet; als diese auf ihrem Erkundungsflug in ein Zeitvakuum geraten, geht die figürliche Welt für einige Seiten in einem Rausch grafischer Abstraktion auf. Und wenn Perrodeau dann eine Armee von Flugkörpern zeichnet, die von einer Raumstation aus dem All entsandt werden, sehen diese aus wie federleichte Origamis – zauberhaft grazile Gebilde, denen dann aber uniformierte Truppen mit finsterem Auftrag entsteigen.

Der Name des Parkwächters vom Anfang liefert bereits ein erstes Indiz: In «Dämmerung» steckt auch ein futuristischer Western. «Wir sind die Pioniere einer neuen Welt», sagt ein Androide einmal. Der amerikanische Frontier-Mythos wird hier in der artifiziellen Biosphäre eines fremden Planeten durchgespielt – eines Planeten, der unserem eigenen jedoch in vielem zum Verwechseln ähnlich sieht.

Jérémy Perrodeau: Dämmerung. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne. Zürich 2020. 144 Seiten. 40 Franken