Auf allen Kanälen: Wer lässt sich manipulieren?
Im Netflix-Film «The Social Dilemma» prangern ehemalige Exponenten von Techgiganten ihre Kreationen an – und geloben Besserung.
Diese Ironie ist sogar den wohlwollenden KritikerInnen von «The Social Dilemma» nicht entgangen: Netflix, die weltweit grösste algorithmusgesteuerte Streamingplattform, verkauft uns einen Dokfilm über die diabolische Manipulationskraft von Algorithmen. Filmemacher Jeff Orlowski lässt darin diverse Fachleute erklären, wie wir zu nützlichen IdiotInnen geworden sind, die sich von profitgierigen Anbietern wie Google, Facebook und Co. fast freiwillig ausbeuten lassen.
Wie willenlose Werkzeuge in Menschengestalt hängen wir an unseren Geräten und saugen nicht nur Werbung, bunte Bildchen und Verschwörungstheorien auf, sondern eben auch die Merksprüche und apokalyptischen Mahnungen dieser phänomenal erfolgreichen Netflix-Dokumentation: Wenn kein anderes Produkt auszumachen ist, bist du das Produkt! Die Techfirmen zapfen deine Aufmerksamkeit an, mit dem Ziel, dein Bewusstsein zu verändern! Fünfzig weisse Tech-Dudes aus dem Silicon Valley haben das Leben von zwei Milliarden Menschen ruiniert! Auf dem Spiel steht nichts weniger als ein Angriff auf die Demokratie – und die Zerstörung der Zivilgesellschaft!
Simple Seifenoper
Gehts auch eine Nummer kleiner? Ja – und «The Social Dilemma» wird besser, wo die Slogans leiser und die Beispiele konkreter werden. Etwa, wenn Netzkritiker Jaron Lanier Facebook mit individualisierten Wikipedia-Einträgen vergleicht: Man suche zwar denselben Begriff, erhalte aber unterschiedliche Definitionen und Kontexte geliefert. Der Erste Weltkrieg? Für alle ein bisschen etwas anderes. Auch mit Suchresultaten bei Google gibts keinen gemeinsamen Boden der Verständigung mehr. JedeR bekommt algorithmisch seine eigene massgeschneiderte Wahrheit geliefert. Und kann es ein Zufall sein, dass nur zwei Geschäftszweige ihre KundInnen UserInnen nennen: Drogenhandel und Softwareanbieter?
Lanier rät uns, alle Social-Media-Apps zu löschen. Was er aber mit den anderen Auskunftgebern (Frauen sind kaum darunter) von «The Social Dilemma» gemein hat: Die meisten standen einst prominent im Dienst eben jener digitalen «Geldmaschinen», die sie nun so wortreich anprangern – als Entwickler, Ingenieure, Profitoptimierer. Die Sprache verschlägt es ihnen erst, als der Interviewer sie fragt, wer denn am Debakel schuld sei. Da schlucken sie leer, ringen um Worte. Man könne keine bestimmte Person verantwortlich machen. Immer wenn die ExpertInnen nicht weiterwissen, greift die Doku zur Fiktion und zeigt uns eine simpel gestrickte Seifenoperfamilie im Clinch mit ihren Abhängigkeiten von Smartphones und Social Media.
Doch sind Verantwortlichkeiten wirklich so schwierig zu benennen? In «The Social Dilemma» erklären uns ein paar weisse Tech-Dudes, sie könnten wieder richten, was sie selber verbockt haben. Bübisch zerknirscht stehen sie vor ihren Kreationen und versichern: Wir wollten Gutes und haben ein Monster geschaffen. Mit derselben Rhetorik, mit der sie einst den Like-Button angepriesen haben, warnen sie nun vor seinen Folgen – und erwarten, dass wir ihnen glauben, wenn sie sagen, dieser Knopf sei als unschuldiges Werkzeug designt worden, um Liebe und Frohsinn zu verbreiten. Diejenigen, die diese Welt in den prekären Zustand programmiert haben, versichern uns, man könne zwar kaum etwas Genaues sagen, aber sie hätten womöglich bald eine ethischere Lösung parat?
Zurück im Teufelskreis
Fakt ist: Mit einer Mischung aus Aufgekratztheit und Weltuntergangsrhetorik erzählt man uns in «The Social Dilemma», Polarisierung halte die Leute online – und weigert sich gleichzeitig, die polarisierenden Brandbeschleuniger klar zu benennen. Man bedauert, dass die Wahrheit langweiliger und weniger profitabel sei als Fake News – und nimmt es selber mit der Wahrheit nicht so genau. Etwa indem suggeriert wird, Social Media seien alleine schuld an Teenagerdepressionen.
Der algorithmisch ermittelte ideale Zuschauer dieses Dokfilms muss ein gutgläubiger Idiot sein, der mit reisserischen Prophezeiungen gezielt geködert wird. Und schon sind wir wieder mittendrin im Teufelskreis aus Profitgier und einfältigem Menschenbild, den der Film vorgeblich durchbrechen wollte.