US-Wahlen: Bloss nicht lockerlassen

Nr. 45 –

Illustration: Ruedi Widmer

Ein knapper politischer Sieg für Joe Biden ist bei Redaktionsschluss noch möglich. Doch steht bereits fest, dass diese Wahl kein klares moralisches Referendum gegen Präsident Trump gebracht hat. Das Land bleibt gespalten und unversöhnlicher denn je.

Trotz Coronarisiko und verwirrenden Anweisungen für den Urnengang nahm eine Rekordzahl von BürgerInnen an der 2020-Wahl teil. Das ist erfreulich und zeugt vom unerschütterlichen Vertrauen der US-AmerikanerInnen in ihre Demokratie. Doch die hohe Wahlbeteiligung führte nicht automatisch zu einem linkeren Wahlergebnis, wie sich das die demokratische Partei erhofft hatte. Und sie schadete auch nicht in jedem Fall der rechtskonservativen Republikanischen Partei, die seit jeher Stimmen von Minderheiten und Andersdenkenden zu unterdrücken versucht. Gemäss vorläufiger Auszählung haben die Grossstädte auch diesmal demokratisch gewählt und die ländlichen Bezirke ebenso verlässlich republikanisch. Die Vorstädte, die in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts weniger homogen sind als in Trumps «Great America», sind wenig überraschend ins demokratische Lager gerutscht. Florida wählte diesmal republikanisch, denn viele ImmigrantInnen aus Kuba und Venezuela waren empfänglich für Trumps Warnung vor einer sozialistischen oder gar kommunistischen Regierung Biden.

Es war alles in allem eine verstörend normale Wahl in einem bekanntlich ganz und gar nicht normalen politischen Umfeld. Die Auftritte der beiden Präsidentschaftskandidaten in der Wahlnacht zeigten das sehr deutlich. Joe Biden sprach zu seinen wegen Corona maskierten Fans an einer Drive-in-Veranstaltung im Freien. Er sei zuversichtlich, dass er gewinnen werde, sagte der Berufspolitiker ruhig, doch es sei weder an ihm noch an Donald Trump, die Wahl zu entscheiden. Das sei allein Sache der WählerInnen. Das Auszählen brauche Geduld. Kurz danach trat Donald Trump zu Militärmarschklängen auf seine Wahlbühne im Weissen Haus. Das dicht gedrängte Publikum applaudierte und skandierte Slogans, natürlich alles ohne Maske. Trump schwelgte eine Weile in tatsächlichen und auch in eingebildeten Wahlerfolgen. Dann erklärte er sich autokratisch zum Wahlsieger, obwohl noch Millionen von Stimmen auszuzählen sind. Die Wahl müsse sofort gestoppt werden, sagte er. Alles andere sei ein Betrug an der Nation. Er werde in dieser Sache den Supreme Court anrufen.

Rechtlich gesehen ist Donald Trumps Geschimpfe wahrscheinlich irrelevant. Politisch räumt er jedoch den Weg frei für den radikalen Teil seiner Basis, der, falls Joe Biden gewinnt, die «gestohlene Wahl» mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, zurückerobern will. Dass Biden gegen einen solch gefährlichen politischen Gegner keinen Erdrutschsieg verbuchen konnte, zeigt, dass Trump und die trumpistische Republikanische Partei eine düstere und sehr starke Strömung in der US-Gesellschaft anzapfen konnten. Der knappe Wahlausgang bedeutet, dass Rassismus und Ressentiments fast schon mehrheitsfähig sind in den Vereinigten Staaten von Amerika, die doch auf ihre Offenheit und ihren Optimismus so stolz sind. Der rechtspopulistische Nationalismus ist allerdings ein politischer Trend, der auch europäischen Demokratien nicht fremd ist.

Ebenso real und aktiv ist aber auch die andere – zahlenmässig etwas stärkere – Seite, die sich für eine demokratische, weltoffene, umweltbewusste und antirassistische USA starkmacht. Black Lives Matter ist bereits jetzt die grösste Bürgerrechtsbewegung der US-amerikanischen Geschichte. Und obwohl nicht der kämpferische Bernie Sanders, sondern der altväterliche Joe Biden die Vorwahl gewann, ist die Demokratische Partei dank ausserparlamentarischem Druck linker und grüner geworden. Beim diesjährigen Urnengang konnten demokratische KandidatInnen in bisher erzkonservativen Bezirken nicht die Wahl, aber doch Stimmenanteile dazugewinnen. Der Afroamerikaner Jaime Harrison, der die Senatswahl für South Carolina gegen den Trump-Jünger Lindsey Graham trotz grossem Einsatz verlor, sagte: «Unser Sieg wurde lediglich auf später verschoben. Ein neuer Süden wird sich erheben.»

Gerade im Wahlfieber sollte man sich daran erinnern, dass jeder Urnengang bloss eine Momentaufnahme in einem langen politischen Prozess darstellt. Die Präsidentschaft nimmt heute einen viel zu wichtigen Platz in der Psyche der US-AmerikanerInnen ein. Die Mainstream- und die sozialen Medien, die von diesem Celebrity-Status profitieren, tragen das Ihre dazu bei. Höchste Zeit, dass die BürgerInnen auch zwischen den Wahlen politisch aktiv werden. Beziehungsweise dass sie so aktiv bleiben, wie sie das die letzten vier Jahre gegen Trump geworden sind. In Portland, wo seit dem Tod von George Floyd im Mai täglich gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit protestiert wird, gingen die AktivistInnen auch am Wahltag auf die Strasse. Sie werden nicht lockerlassen. Auch wenn Joe Biden gewählt wird, ist das nicht die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme, sondern allenfalls die Chance, einen Schritt weiterzukommen.