Belarus: «Es ist wie ein Partisanenkampf»

Nr. 46 –

Swetlana Tichanowskaja hat bei den Präsidentschaftswahlen Amtsinhaber Alexander Lukaschenko herausgefordert – und lebt jetzt im litauischen Exil. Nun wirbt sie in Europa für die Opposition und wendet sich auch an westliche InvestorInnen.

«Lukaschenko fürchtet sich vor der eigenen Bevölkerung, ist in Panik und macht einen Fehler nach dem anderen»: Swetlana Tichanowskaja. Foto: Arturas Morozovas, Getty

WOZ: Frau Tichanowskaja, Sie haben im August und im Oktober zu einem landesweiten Generalstreik in Belarus aufgerufen, um den Druck auf Machthaber Lukaschenko zu erhöhen. Ihr Appell ist in den Staatsbetrieben ins Leere gelaufen. Sind Sie enttäuscht?
Swetlana Tichanowskaja: Es stimmt, wir haben uns vom Generalstreik mehr erhofft. Aber die Arbeiter in Belarus beginnen trotzdem, sich in Streikkomitees zu organisieren und aus den staatlichen Gewerkschaften auszutreten. Immer mehr Menschen zeigen sich solidarisch.

Aber gerade in den Staatsbetrieben scheint Lukaschenko noch viele Hebel zu haben, um Druck auszuüben.
Lukaschenko hat nur noch ein Mittel, um Druck auszuüben: Gewalt, und diese setzt er überall ein. Statt umsichtig auf die Situation zu reagieren, macht das Regime alles dafür, dass es noch mehr gehasst wird. Wir hingegen lassen uns nicht provozieren, wir kämpfen ausschliesslich mit friedlichen Mitteln.

Die Proteste dauern schon seit dem Sommer an, jetzt kommt der Winter. Befürchten Sie, dass die Proteste an Schwung verlieren?
Es kann schon sein, dass jetzt weniger Menschen auf die Strassen gehen werden. Auch deswegen, weil sich die Menschen vor langen Gefängnisstrafen fürchten, allein vergangene Woche wurden mehr als tausend Menschen inhaftiert. Dennoch werden die Proteste weitergehen. Es ist wie ein Schneeballsystem, das sich nicht mehr aufhalten lässt. Die Demonstranten organisieren sich schrittweise auf lokaler Ebene. Es ist wie ein Partisanenkampf. Langsam, aber sicher wird der Druck auf das Regime erhöht. Das System bekommt schon Risse.

Lukaschenko erweckt aber nach wie vor den Anschein von Normalität. Vor wenigen Tagen hat er in Minsk feierlich neue Metrostationen eröffnet.
Was bleibt ihm auch anderes übrig, als den Schein zu wahren? Er war immer überzeugt, dass er alles unter Kontrolle hat. Aber das Selbstbewusstsein der Belarusen hat sich verändert. Jetzt fürchtet er sich vor der eigenen Bevölkerung, ist in Panik und macht einen Fehler nach dem anderen. Wir müssen weiter Druck ausüben, bis das Regime keine andere Möglichkeit mehr hat, als zu verhandeln und abzutreten. Es wird in jedem Fall Veränderungen geben müssen.

Sie sind gerade in Wien und sprechen hier auch mit westlichen Investoren und Investorinnen über die Demokratiebewegung in Belarus. Was fordern Sie konkret?
Gerade weil Handelsbeziehungen wichtig sind, fordern wir ausländische Unternehmen auch nicht auf, sich aus Belarus zurückzuziehen oder ihre Aktivitäten dort einzustellen. Wir fordern nur, dass sie als Unternehmen aus einem demokratischen Land ihren Beitrag leisten, indem sie ihre Stimme erheben und sich gegen die Gewalt und gegen die Folter unseres Regimes positionieren.

Zu Beginn haben sich die Demonstrierenden gegen das Regime weder prowestlich noch prorussisch positioniert. Inzwischen wird Lukaschenko aber vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt, und die EU unterstützt die Demokratiebewegung. Hat das die Ausrichtung der Proteste verändert?
Die EU unterstützt die Opposition nicht aus geopolitischen Gründen, sondern fordert den Schutz unserer Menschenrechte ein. Die russische Führung ist ausserdem vorsichtig in ihren Aussagen geworden. In den staatsnahen russischen Medien haben sie sogar schon begonnen, die Wahrheit über unsere Proteste zu berichten, während dort anfangs nur Propaganda über uns zu sehen war. Ich sehe das als Zeichen, dass sie abwarten, was passiert. Lukaschenko wird für die Belarusen nie wieder eine Führungsfigur sein. Wozu ihn also noch weiter unterstützen?

Haben Sie eine Strategie, wie Sie mit Russland umgehen wollen?
Russland ist ein wichtiger Handelspartner, und wir wollen auch in Zukunft gute Beziehungen zu Moskau haben. Aber zentral sind dabei unsere Souveränität, unsere Unabhängigkeit und die Nichteinmischung in unsere Politik.

Sie wurden schon vor drei Monaten aus Belarus verwiesen. Wie schwer ist es, noch weiter auf die Situation im Land Einfluss zu nehmen?
So gross ist mein Einfluss gar nicht, ich bin nur ein Symbol dieser Revolution. Auch wenn ich täglich in Kontakt mit oppositionellen Lehrern, Ärzten, Arbeitern und Studenten meines Landes stehe, bin ich keine Führungsfigur dieser Bewegung. Selbst dann, wenn mir – Gott behüte – etwas passieren sollte, werden die Proteste weitergehen.

Sie sind Übersetzerin, und Sie sind eher zufällig in die Politik gestolpert, weil Ihr Mann verhaftet wurde. Ein Spruch von Ihnen ist im Wahlkampf als Präsidentschaftskandidatin legendär geworden: «Ich will nur meinen Mann und meine Kinder zurück und wieder meine Frikadellen braten.» Gilt das nach wie vor?
Natürlich! Aber vielleicht mache ich doch noch eine Ausbildung, damit ich Belarus beim Schutz der Menschenrechte nützlich sein kann.

Als künftige Präsidentin sehen Sie sich nicht?
Nein, ganz bestimmt nicht.

Swetlana Tichanowskaja (38) war Hausfrau, bevor sie bei den belarusischen Präsidentschaftswahlen im August anstelle ihres inhaftierten Ehemanns zur Wahl antrat.