Belarus: Das Kidnapping des digitalen Revolutionärs

Nr. 21 –

Aus dem Exil heraus führte der Blogger Roman Protasewitsch den digitalen Aufstand gegen Präsident Alexander Lukaschenko an. Das machte ihn zum Staatsfeind Nummer eins.

Als die Bewegung ihre wichtigsten Köpfe verlor, pochte das Herz des Widerstands in Polen weiter. Es waren die Gewaltnächte von Minsk, nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020, als sich Roman Protasewitsch im Warschauer Büro mit seinen Kollegen durch die Aufnahmen klickte, die sie im Sekundentakt aus Belarus erreichten. Manchmal waren es 200 Nachrichten pro Minute. Ein einziger Datenfluss des Horrors: Granaten, Schüsse, Schlagstöcke, Schreie, sogar Tote. Sie sichteten die Aufnahmen, sortierten sie, wählten daraus aus und luden sie auf ihrem verschlüsselten Telegram-Kanal «Nexta» hoch.

Es waren Enthüllungen über eine exzessive Polizeigewalt, die selbst für die Verhältnisse in dem Land, das den Ruf als «letzte Diktatur Europas» hat, beispiellos waren und die Wut auf den Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko nur noch weiter angefacht haben. Wenige Tage später marschierten Hunderttausende BelarusInnen durch Minsk und andere belarusische Städte und skandierten: «Lukaschenko, hau ab!» Als der Autokrat in Minsk zu wanken schien, legte «Nexta» nach: Über den verschlüsselten Kanal wurden nicht nur Videos abgespielt und interne Dokumente geleakt, sondern auch Aktionen koordiniert, Informationen geteilt, und es wurde zu Protesten aufgerufen. Mit dem expliziten Ziel, das autokratische Regime in Minsk zu stürzen: «Ein Vierteljahrhundert Lukaschenko ist genug», sagte der «Nexta»-Mitgründer Stepan Putilo zuvor in einem Interview gegenüber der «Zeit».

Die erzwungene Landung

Es ist diese Tätigkeit zwischen Aktivismus, Blog und Journalismus, die Protasewitsch zum Staatsfeind werden liess. «Nexta» ist in Belarus als extremistische Organisation und Protasewitsch als Terrorist eingestuft, die belarusischen Behörden riefen die Europäische Union schon vor Monaten zu seiner Auslieferung aus dem polnischen Exil auf. Eine Forderung, die die EU ablehnte, und ein Umstand, den Protasewitsch selbst mit Humor nahm: «Der erste Journalisten-Terrorist in der Geschichte» ist seine Selbstbeschreibung auf Twitter. Doch wie ernst es Lukaschenko mit seiner Rache an diesem geflohenen Regimekritiker sein sollte, zeigen die vergangenen Tage. Am Sonntag zwang ein Kampfjet unter einer fingierten Bombendrohung ein Passagierflugzeug, unterwegs zwischen den EU-Hauptstädten Athen und Vilnius, zur Landung in Belarus. In der Ryan-Air-Maschine sass Protasewitsch mit seiner Freundin Sofija Sapega. Nach der Landung ins Minsk wurden beide verhaftet.

Kaum lässt sich ermessen, wie sich ein Dissident, der selbst noch vor wenigen Monaten als «Nexta»-Chefredaktor die schlimmsten Szenen der Polizeigewalt aussortierte, im Wissen über seine bevorstehende Verhaftung gefühlt haben mag, als das Flugzeug kurz vor der belarusisch-litauischen Grenze plötzlich in Richtung Minsk abdrehte. «Sie werden mich umbringen», waren die Worte, mit denen sich Protasewitsch an einen Passagier wandte. Der 26-jährige Protasewitsch ist derzeit in Untersuchungshaft – ihm drohen bis zu fünfzehn Jahre Gefängnis.

Drei Tage Blut im Urin

Schon als Teenager wusste Roman Protasewitsch, was es bedeutet, sich mit einem Diktator anzulegen. Er war gerade einmal siebzehn Jahre alt, als er zum ersten Mal festgenommen wurde, für das Betreiben regimekritischer Gruppen auf Vkontakte, dem russischen Pendant zu Facebook. «Wir haben Lukaschenko satt», hiess etwa eine davon. Als Mitarbeiter des belarusischen Geheimdiensts KGB ihn verhörten, schlugen sie ihn so stark in den Bauch, dass er drei Tage Blut im Urin hatte. «Sie haben damit gedroht, mir ungelöste Mordfälle anzuhängen», erzählte er später.

2019 floh er aus dem Land, um gemeinsam mit dem damals zwanzigjährigen Blogger Stepan Putilo «Nexta» aufzubauen. Die grosse Stunde der Plattform schlug bei den Protesten im August, als die Behörden drei Tage lang das Internet im ganzen Land kappten und nur noch Telegram-Kanäle funktionierten, darunter «Nexta», mit zwischendurch rund zwei Millionen FollowerInnen. Eine «Nexta»-Dokumentation über Lukaschenkos Reichtümer wurde auf Youtube bisher 6,4 Millionen Mal angeklickt. Zum Vergleich: Belarus hat 9,4 Millionen EinwohnerInnen.

Protasewitsch gehört zur Generation jener jungen BelarusInnen, die ihr ganzes Leben unter Lukaschenko verbracht haben – als er 1995 in Minsk auf die Welt kam, war der ehemalige Sowchosenbauer mit dem Schnauzbart schon ein Jahr im Amt. Es ist eine digitalaffine, sprachgewandte, neugierige und reiselustige Generation, die nicht mit nostalgischen Gefühlen gegenüber der untergegangenen Sowjetunion, sondern mit sozialen Medien, Schengen-Anträgen und Reisen in die EU-Nachbarländer wie Polen oder Litauen aufgewachsen ist.

Protasewitsch zog es schon früh zum Widerstand gegen das Regime. Immer wieder wurde er bei Protesten verhaftet, ein Foto zeigt einen jungen Mann mit ernstem Blick und mittellangen Haaren, der von zwei Männern in Zivil abgeführt wird. Er begann ein Journalismusstudium an der staatlichen Uni in Minsk, wurde aber aufgrund seiner oppositionellen Tätigkeit ausgeschlossen und arbeitete für unterschiedliche Medien, darunter Radio Free Europe. Als «impulsiv, kreativ» und jemanden, «der keine Ungerechtigkeiten erträgt», beschreibt ihn der Exkollege Franak Viacorka, der heute die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja berät, gegenüber der «Financial Times». Russische Medien versuchen nun, ganz nach dem üblichen Kreml-Drehbuch, Protasewitsch in die Nähe von Rechtsextremen zu rücken.

Ein Signal ans Exil

Es ist eine schreckliche Ironie, dass gerade Protasewitsch, der massgeblich mithalf, die Gewalt der «silowiki» – Lukaschenkos Sicherheitsapparat aus Militär, Polizei und Geheimdienst – für die Öffentlichkeit zu dokumentieren, jetzt selbst in der Gewalt dieses Sicherheitsapparats ist. Erste Videoaufnahmen, von einem regierungsnahen Telegram-Kanal verbreitet, lassen nichts Gutes vermuten. In einem beklemmenden Statement gab Protasewitsch an, er werde gut behandelt, erfreue sich bester Gesundheit und werde sich zu allen Vorwürfen schuldig bekennen. Sichtlich gezeichnet von Misshandlungen, mit Hämatomen auf der Stirn und einer gebrochenen Nase, wie sein Vater zu erkennen glaubt.

Protasewitsch arbeitete nicht nur als Blogger, sondern auch als Fotograf. Auch in der griechischen Hauptstadt Athen hat er dieser Tage fotografiert, als Swetlana Tichanowskaja die Stadt besuchte. Es ist sein letzter Twitter-Eintrag: Tichanowskaja bei Treffen mit griechischen RegierungsvertreterInnen, Tichanowskaja vor der Akropolis. Sie war eine Woche zuvor dieselbe Strecke geflogen, Athen–Vilnius. Es ist nicht klar, warum eine ganze Flugzeugentführung geplant wurde, um Protasewitsch in die Finger zu kriegen und nicht Tichanowskaja. Vielleicht fürchtet Lukaschenko den digitalen Revolutionär einfach mehr als die offizielle Anführerin der Demokratiebewegung.

So oder so ist es ein Signal des Diktators an alle BelarusInnen im Exil: Selbst dort seid ihr nicht mehr vor mir sicher.