Klimastreik: Anrennen gegen die Verzweiflung

Nr. 49 –

Vor bald zwei Jahren bewegte der erste nationale Klimastreik das Land. Inzwischen steht die Bewegung vor der grossen Frage: Wie weiter, wenn es nicht weitergeht?

«Wir fragen uns derzeit schon manchmal: Was bringts?» Milena Hess, Leandra Breu und Mattia De Lucia im Zürcher Klimaraum.

Es hat bereits eingedunkelt, Winterzeit. Im Zürcher Klimaraum, der sich in einem mehrgeschossigen Bürogebäude mitten im Kreis 5 befindet, sitzt Leandra Breu an einem grossen runden Tisch. Der Raum ist voller Flyer, Plakate, Zeitungen. Breu ist sechzehn Jahre alt, von kleiner Statur, sie trägt kinnlanges dunkles Haar und erzählt mit heller Stimme und voller Energie. An diesem Abend Ende Oktober sagt sie: «Irgendwann ging mir auf, dass man mich angelogen hat.» Alle hätten immer so getan, als herrsche die völlige Normalität. «Es ging darum, was ich mal studieren werde. Ob ich mal Kinder kriegen würde, solche Dinge.»

Breu ging als Vierzehnjährige zum ersten Mal an einen Klimastreik, zusammen mit ihren Eltern. Sie sei mehr so hinterhergelaufen, sagt sie. Das Klima sei zuvor in ihrem Leben kein grosses Thema gewesen. Weder in der Sekundarschule noch zu Hause, wo man zwar über Umweltthemen gesprochen habe, aber eben nicht so, wie es dann die KlimaaktivistInnen taten. Sie sei «wahnsinnig erschrocken», als ihr das ganze Ausmass der Klimakatastrophe bewusst geworden sei. «Ich konnte fast nicht begreifen, dass wir dagegen einfach nichts tun.»

Die herbeigeschriebene Spaltung

Als sich der Klimastreik vor fast zwei Jahren formierte, war das ein Dammbruch. Die Klimapolitik wurde nach Jahren der kompletten Ignoranz zum dominierenden Thema. Mittlerweile ist die Euphorie verflogen. «The system has failed» lautet nun der Slogan, mit dem der Klimastreik im September nach den ersten Pandemiemonaten die Strasse zurückeroberte. Die jungen AktivistInnen haben den Glauben an die institutionelle Politik verloren, weil diese nicht fähig scheint, auch nur ansatzweise ausreichende Antworten zu liefern. Das im Herbst vom Parlament beschlossene CO2-Gesetz ist dank der Klimaproteste zwar besser als sein Vorläufer. Doch besser heisst immer noch: Es wirkt wie Aspirin gegen einen Hirntumor.

Was macht das mit den AktivistInnen? Zürcher Lochergut, ein herbstlicher Samstagmorgen. Mattia De Lucia ist mit Unterschriftenbögen unterwegs. Er gehört zur Minderheit innerhalb der Klimastreikbewegung, die das Referendum gegen das CO2-Gesetz ergriffen hat. Getragen wird es in erster Linie von den Westschweizer Klimastreik-Sektionen, dazu kommen etwa die Partei der Arbeit und die Bewegung für den Sozialismus. De Lucia – Locken, in die Wollsocken gestopfte Hosen – hat sich nach dem Wirtschaftsgymnasium gegen ein Studium entschieden, stattdessen macht er ein Praktikum bei einem Unternehmen, das Lebensmittelverschwendung verhindern will, daneben widmet er sich voll dem Klimastreik.

Hier im Kreis 4 unterschreiben viele PassantInnen das Referendum sofort, die Stichworte «für eine wirksame und soziale Klimapolitik» reichen. Zwischen dem Ansprechen der Menschen auf der Strasse sagt De Lucia, am Anfang habe beim Klimastreik das Gefühl geherrscht: «In einem Jahr haben wir das Klima gerettet.» Inzwischen wisse man, dass es dafür zwanzig, dreissig, vierzig Jahre Schnauf brauche. Das könne schon lähmend wirken. De Lucia erzählt von AktivistInnen, die damit psychisch nicht klargekommen seien. Einige hätten resigniert. Ihn selbst rette wohl auch ein bisschen sein Trotz, sagt er. «Ich will nicht in der Hoffnungslosigkeit versinken, sondern aktiv bleiben.» Das Referendum sei derzeit eine der wenigen Möglichkeiten, konkret zu handeln. Also tue er das.

Das Referendum hat der Klimastreik-Minderheit viel Kritik eingebracht: Es sei taktisch unklug – denn auch die SVP bekämpft das CO2-Gesetz. Die linken Nein-Stimmen könnten den Rechten zu einem Sieg verhelfen, der nicht im Sinne der KlimaaktivistInnen ausgelegt würde. Es droht die Blockade jeglicher Fortschritte in der Klimapolitik.

De Lucia argumentiert anders: Die Zeit der Kompromisse sei vorbei, sagt er. Ein Gesetz, das die Emissionsziele so klar verfehle und etwa den Bankenplatz nicht in die Pflicht nehme, brauche es nicht. «Mir macht es Angst, welche Strukturen wir damit verfestigen würden.» In der Westschweiz, wo die Bewegungen links der SP traditionell stärker sind, ist diese Sichtweite verbreiteter. Klimastreik-Sprecherin Franziska Meinherz, die auch Teil der Waadtländer Regionalgruppe ist, sagt am Telefon: «Das Gesetz hätte einen Schlafmitteleffekt, es ist bloss ein Mittel, die Debatte lahmzulegen. Das wäre mörderisch.» Merz erinnert auch daran, dass Referendumskämpfe in der Westschweiz immer wieder eine grosse mobilisierende Wirkung entfaltet hätten. «Die Frauenstreikbewegung etwa konstituierte sich in erster Linie aus den Referendumskomitees gegen die Altersreform 2020.»

«Spaltet das CO2-Gesetz die Klimabewegung?», fragten die Medien nach der Referendumsankündigung. Meinherz und De Lucia glauben das nicht. Allerdings würden heute die Diskussionen in der Bewegung intensiver geführt. De Lucia glaubt, das sei ein Zeichen für mehr Reife. Am Anfang habe man sehr allgemein mehr Klimaschutz gefordert. Heute würde man viel grundlegendere Fragen diskutieren: «Wie viel erreichen wir mit Reformismus? Wie überwinden wir das System? Braucht es eine neue Verfassung? Wie schafft man es, ein ungenügendes Gesetz anzuprangern, ohne in der Klimadebatte bei dieser Auseinandersetzung stecken zu bleiben?» Im Grundsatz aber sei sich die Bewegung heute aber wohl einiger als zu Beginn. Sie akzentuiere sich klarer. Meinherz sagt: Der Klimastreik sei heute klarer links zu verorten als zu Beginn. Dass es einen grundsätzlichen Wandel brauche, darüber sei man sich heute weitgehend einig, grünliberale Argumente hätten weniger Einfluss.

«Sie klauen uns die Kindheit»

Leandra Breu macht inzwischen eine Ausbildung zur Informatikerin. Sie sagt, manchmal könne sie selbst nicht fassen, was in den letzten zwei Jahren mit ihrem Leben passiert sei. Breu ist beim Klimastreik in verschiedenen Arbeitsgruppen aktiv, setzt sich etwa mit Klimagerechtigkeit oder dem Einfluss des Finanzplatzes auseinander. Vor dem Klimastreik habe sie den Kapitalismus nicht infrage gestellt. «Jetzt finde ich: ‹System Change? Natürlich!›. Ich kann zwar nicht sagen, was das beste System ist, aber eines, das auf kapitalistischen Grundsätzen beruht, sicher nicht.» Das Referendum unterstützt Breu im Gegensatz zu De Lucia nicht. Sie könne zwar die Beweggründe verstehen, nur glaube sie nicht, dass man damit irgendetwas Positives erreiche. «Und ich persönlich finde, wir sollten nicht mit der SVP zusammenspannen, da der Klimastreik mit sozialer Gerechtigkeit zusammenhängt. Da dürfen wir uns nicht mit einer Partei gemeinmachen, die diese fundamental bekämpft.»

Der Aktivismus im Klimastreik hat für Breu vor allem eine Funktion: alles erträglicher machen. Die Politik? Am Anfang sei da noch ganz viel Hoffnung gewesen, inzwischen habe sie diese vollends verloren. Mit der Bundesplatzbesetzung von Ende September hat sich auch in umgekehrter Richtung die Wahrnehmung verschoben: Behandelten Politik und Presse den Klimastreik anfangs noch wohlwollend, reagierten beide mehrheitlich paternalistisch verschnupft auf den zivilen Ungehorsam der DemonstrantInnen.

Hier die Dringlichkeit, dort die herablassende Untätigkeit. Breu sagt, das sei nur schwer auszuhalten. Da sei mittlerweile viel Enttäuschung, viel Abstumpfung. Aber man bleibe eben trotzdem aktiv, weil sich so der permanente Gedanke an die Klimakrise besser aushalten lasse. Es sei paradox: «Irgendwie ist es leichter, nicht ständig über das grosse Ganze nachzudenken, wenn man sich ständig mit dem Thema beschäftigt.» Irgendetwas tun, um nicht ob dem Nichtstun zu verzweifeln. Breu sagt, sie sei wütend. «Die Politik hat ganz grundsätzlich vergessen, dass meine Generation und alle folgenden keine Zukunft mehr haben, wenn es so weitergeht. Man gibt uns Zückerchen, dann sollen wir ruhig sein. Sie überlassen das Thema uns, und damit klauen sie uns auch noch die Kindheit.» Sie lacht. «Manchmal sagen wir uns hier schon, wenn wir nicht im Klimastreik wären, hätten wir ein ganz anderes Leben.» Sie habe ja eigentlich die gleichen Träume wie die meisten: reisen, die Welt entdecken, solche Dinge eben. Aber im Moment sei ihre einzige Hoffnung, dass noch mehr Leute hoffnungslos würden. «Die einzige Chance ist, dass wir weiterwachsen und irgendwann die anderen überstimmen.»

Milena Hess sagt es noch drastischer: «Du setzt irgendeinen Social-Media-Post ab, machst einfach irgendetwas, rennst von Streik zu Streik, kannst eigentlich gar nicht mehr anhalten. Denn dann müsstest du darüber nachdenken, dass eigentlich gar nichts passiert.» Hess ist zwanzig Jahre alt und seit gut einem Jahr beim Luzerner Klimastreik aktiv, wo sie unter anderem Öffentlichkeitsarbeit macht. Auch sie unterstützt das Referendum nicht. Beim Zoom-Gespräch an einem verregneten Freitag wirkt die junge Frau mit dem Fransenschnitt nachdenklich. Sie frage sich manchmal schon, wie ihre Jugend unter anderen Umständen aussehen würde. Die Welt sei zu einem Hort permanenter Krisen geworden. «Früher lagen die Probleme ausserhalb des Normalen, heute leben wir in einer Realität, die permanente Krisen produziert. Sie sind die neue Normalität.» Sie habe deshalb eine gewisse Sicherheit verloren, das Selbstverständnis, dass schon alles gut komme.

Sich vergraben ist keine Option

«Du blickst auf deine Stadt, alles wirkt alltäglich, normal», sagt sie. Daran klammerten sich wohl die meisten Menschen aus Selbstschutz. «Es ist psychologisch ja auch erwiesen, dass man sich an die schlimmsten Szenarien gewöhnt und Veränderungen, wenn sie Schritt für Schritt passieren, nicht richtig wahrnimmt. Dabei wäre der Aufwachmoment schon vor zwanzig Jahren gewesen.» Hess findet, man dürfe durchaus auch einmal verzweifeln. Daran, dass man nicht durchdringe. «Man wirft uns vor, realitätsfremd zu sein, aber ist die Politik nicht viel realitätsfremder als das, was wir fordern?»

Ende November sieht es schlecht aus für das Referendum gegen das CO2-Gesetz: Die Explosion der Coronafallzahlen seit dem Sammelstart Anfang Oktober macht das Sammeln der Unterschriften schwierig bis unmöglich. Das gilt vor allem für die Westschweiz, wo das Referendum die grösste Basis hat. In allen Kantonen der Romandie herrscht derzeit zumindest ein Teil-Lockdown, in Genf und Neuenburg ist das Unterschriftensammeln gar verboten. Eine Fristverlängerung hat die Bundeskanzlei abgelehnt. De Lucia glaubt nicht, dass die 50 000 Stimmen bis am 14. Januar zustande kommen. «Wir versuchen nun, in der Deutschschweiz mehr zu sammeln, aber das wird sehr schwierig.» Auch die SVP kämpft mit den Bedingungen. Bringt sie ihr Referendum dennoch zustande, werde das Klimastreik-Komitee mit eigenen Argumenten in den Abstimmungskampf steigen. «Auch wenn wir keine 50 000 Stimmen zusammenbekommen, erhält unser Komitee einen Platz im Abstimmungsbüchlein.»

Milena Hess sagt zum Schluss: «Wir fragen uns im Klimastreik derzeit schon manchmal: Was bringts?» Der Druck sei gross. In intensiven Phasen habe sie drei Anrufe oder Videocalls am Tag, sieben Tage die Woche. Aber sich einfach vergraben sei nun einmal keine Option. Im Mai nächsten Jahres plant die Bewegung den nächsten grossen «Strike for Future». Man müsse die Energie jetzt darauf verwenden, sagt Hess. Und ansonsten lokal tätig werden: Quartiere umbauen, Strassen verhindern, Klimagruppen gründen, überall.