Queere Fotografie: Hier wölbt sich eine Bauchfalte

Nr. 6 –

Bunt und unbeschwert, aber auch gemassregelt und gewaltsam verfolgt: Ein neuer Fotoband zeigt Leben, das den weltweit weiterhin dominanten heteronormativen Rahmen sprengt.

Wie sortiert man diese geballte Ladung Körper? Aus der Serie des griechischen Fotografen Kostis Fokas in «New Queer Photography».

Schweres Paket, meint die Nachbarin, und reicht es durch die Tür. Der Lieferschein notiert 2,284 Kilogramm, ein Fotoband im grossen Format: 304 Seiten Party, Verfolgung, Trotz, Zärtlichkeit, Zwischentöne. Viele Kompositionen ähneln Werbeaufnahmen, leere Blicke, Haut, Brüste, beschnittene Penisse, unbeschnittene Penisse, Tätowierungen, Achselhaare, Hände, noch mehr Haut.

Eine geballte Masse Körper, ein erschöpfender Reigen. Viel von dieser Ästhetik all der Magazine, die man in Berlin, Zürich, Wien, London, Paris in hippen kleinen Läden teuer kaufen kann. Blättert man durch und denkt sich: «Ja nun, kann man machen.» In rascher Folge wechseln die Stile, sechs Seiten hat jedeR FotografIn, wir springen aus den USA über Vietnam und Grossbritannien nach Bangladesch. Welcher Zugang ergibt Sinn, wie sortiert man das? Kunstkritik? Politische Analyse? Blick auf die kleinen Risse in der Warenästhetik?

Finger greifen nach Haut

Der Band heisst «New Queer Photography», Benjamin Wolbergs hat darin eine Rundumsicht versammelt, mit bonbonrosafarbener Typografie eingeleitet, die FotografInnen kurz vorgestellt. Der Blick geht von Matt Lamberts Umschlagbild, das zwischen sexuellem Akt, Gewalt, Lust oder Zärtlichkeit siedelt, über Florian Hetz’ Erkundungen entlang im Detail aufgenommener Intimität: Hier greifen Finger nach Haut, wölbt sich eine Bauchfalte, glänzt rotes Achselhaar. Fast enttäuschend danach seine Standardporträts, da steht jemand, einer Auflösung gleich, in der Gegend herum.

Ein erster Überblick: Schlichte Porträts wechseln mit dokumentarischer Beobachtung, Inszenierungen inmitten des Lebensumfelds von trans Menschen, sexuelle Positionen, die Feier ums Selbst, Mittelmass. Dann Pauliana Valente Pimentels Reihe aus Cabo Verde: ihre ProtagonistInnen inmitten karger Landschaft, vor ärmlichen Häusern, ein Kontrast, dem man sich schwer entziehen kann. Wir ahnen die Enge der Insel. Weiter: Lust an verwirrenden Geschlechterbildern in den USA, eine kurze Bildererzählung zur Lebensgefahr in einer homophoben Gesellschaft. Und: Selbstporträts. Porträts auf Partys, Porträts auf der Strasse, noch mehr Selbstporträts, Porträts in Leder.

Wer diesen Band in Berlin anschaut, in Zürich, Wien oder London, kann schnell den Fehler machen und «ja nun» denken. Die Disziplinierung des Körpers durch Machtverhältnisse, über die sich Michel Foucault beugte, funktioniert hier anders, lässt mehr Vielfalt zu. Vieles, was einst als Devianz gemassregelt und verfolgt wurde, wird heute stolz als Banner in die Höhe gereckt. Narben wegoperierter Brüste oder trans Outfits funktionierten in Berliner Clubs immer, bis die Pandemie dem ein Ende setzte.

Vielleicht ist es der Text von Ben Miller nach einem guten Drittel des Bandes, der den Blick verändert. Miller führt Laurence Rastis Aufnahmen von schwulen Iranern ein und weist auf die Praktiken der Entmenschlichung hin, Foucaults Paradigma bleibt aktuell. Zugleich zeigt er die Grenzen der Alltagswahrnehmung in Berlin oder Zürich: Indem Miller noch einmal die Behauptung von Irans Expräsident Mahmud Ahmadinedschad aufnimmt, nach der es keine Homosexualität im Iran gebe, spielt er den Ball an uns zurück. Die behauptete Abwesenheit von Homosexuellen im Iran sei «ironischerweise durch den Mangel an iranischen Queers in vielen Medien des Westens reproduziert» worden. Rasti, iranische Eltern, in der Schweiz aufgewachsen, porträtiert schwule Iraner, die in einer türkischen Grenzstadt darauf warten, an einen sichereren Ort auszureisen. Ihre Gesichter bleiben verborgen, sie sind der Todesstrafe entkommen.

Mit dieser Fallhöhe im Blick kann man zurückblättern und über den Mangel an Queers in Medien nachdenken. Sicher, die quietschbunten Bilder etwa von Ralf Obergfell kümmern sich vor allem um Oberflächen des Hedonismus, aber seine Aufnahmen der geschlechterflexiblen Personen haben fortan einen anderen Geschmack: In ihnen findet der ängstliche bürgerliche Normierungswahn eine Grenze. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, die Herausgeber Wolbergs versammelt, schimmert stets die brüchige Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaften gegenüber Menschen durch, die sich ihnen ästhetisch und sexuell widersetzen.

Partys und Übergriffe

Dabei ergibt sich die Relevanz des Rundblicks nicht nur aus den Aufnahmen von Shahria Sharmin und ihren schwarzweiss fotografierten Fragen nach Geschlechterdispositionen in Bangladesch. Auch in Berlin, direkt neben den Orten, von denen Spyros Rennt vor allem Partybanalitäten hervorhebt, gibt es immer mehr homophobe Übergriffe. Die NZZ versuchte, diesen Umstand vor allem Muslimen in Neukölln an die Backe zu kleben, und kritisierte «linke Gruppierungen», die das hinterfragten, als «naiv».

Daran ist einiges falsch, anderes nur zu schlicht gedacht: Die Verwechslung von Islam und Islamismus ist leider trauriger Standard. Ob homophobe Gewalt grundlegend in einer Religion oder doch eher in toxischer Männlichkeit verankert ist, könnte eine Kontrollgruppenuntersuchung aufzeigen. Zum Beispiel bei der sächsischen Polizei.

Benjamin Wolbergs (Hrsg.): New Queer Photography. Kettler Verlag. Dortmund 2020. 304 Seiten. 65 Franken