«1984»: Neue Blicke auf den Grossen Bruder

Nr. 16 –

George Orwells Roman «1984» ist ein Longseller über Herrschaftstechniken. Was leistet er fürs Zeitalter der Fake News? Und warum braucht es neue deutsche Übersetzungen?

Um die Augen kommt kaum jemand herum. Mindestens eines blickt einen von allen Buchumschlägen der neuen deutschen Ausgaben von George Orwells «1984» an. Augen repräsentieren ja auch ein zentrales Motto des Buchs: «Big Brother is watching you.» Darin steckt ein doppeltes Motiv. Erstens der Mensch, der Grosse Führer, der alle überblickt und überwacht. Zweitens das technologische Mittel, der Teleschirm, der diesen Blick erst ermöglicht.

Kürzlich sind acht neue deutsche Übersetzungen von «1984» erschienen. Ja, acht. Das hat vorerst ein banal kommerzielles Motiv: Das Copyright für die Werke von Orwell ist Anfang Jahr abgelaufen, also schaffen sich viele Verlage ein neues Copyright auf eine eigenständige Übersetzung. Denn «1984», so die Kalkulation, ist und bleibt ein Longseller. Mit Wellen zusätzlicher Popularität. Während der Anfänge des Kalten Kriegs. Aufs titelgebende Jahr 1984 hin. Wenn technische Innovationen neue Möglichkeiten zur Überwachung bieten. Oder wenn eine neue politische Figur auftaucht: Donald Trump etwa als manipulativer und lügnerischer Big Brother.

Kampf um die Köpfe

Diese flottierende Bedeutung hängt auch damit zusammen, dass Orwell in seiner fiktiven Diktatur verschiedene Herrschaftstechniken am Werk zeigt. Zuerst und am spektakulärsten die technologische: Das Fernsehen war noch kaum erfunden, als der Roman schon eine Kamera in allen Wohnzimmern installierte, die jede Bewegung und jeden Ton aufzeichnete – oder fast, denn in toten Winkeln und im durch Musik übertönten Flüstern konnte sich vorerst noch Widerstand entwickeln. Aber Technologien sind selbst in Science-Fiction-Romanen eher langweilig.

Im Übrigen garantieren Orwells Teleschirme bloss den ersten Schritt: die Überwachung. Der zweite, wichtigere Schritt ist dann die Umerziehung. Dazu muss die bisherige Realitätsauffassung, ja das Wahrheitsverständnis zerstört werden. Der Parteifunktionär O’Brien, der den abtrünnig gewordenen Winston Smith zum wahren Glauben zurückführen soll, veranschaulicht das am handfesten Beispiel. Wie viele Finger, fragt er, siehst du, wenn ich zwei hochrecke und dann nochmals zwei? Nein, nicht vier, sondern fünf. Zwei mal zwei ist fünf, lautet das Mantra derjenigen, die ihre eigene Realität als die wahre durchsetzen wollen. Solche Umerziehung soll durch Repression und zugleich durch ideologische Bearbeitung erreicht werden. Den historischen Hintergrund dafür lieferten Faschismus und Stalinismus.

Ja, es kommen Stiefel vor, mit denen AbweichlerInnen das Gesicht zertreten wird, und Rizinusöl, das nicht nur den Magen, sondern auch die Selbstachtung zerstört.

Mindestens so wichtig wie diese gewalttätigen Mittel sind freilich die ideologischen Mechanismen, der Kampf um die Köpfe. Dazu dient die Ablenkung auf Feinde, sei es durch einen immerwährenden Krieg gegen aussen, sei es durch den Krieg gegen die Feinde im Innern: Beides wird in kollektiven Hassorgien gebündelt. Am Einzelnen, an Winston Smith, wird mit langen Gesprächen gearbeitet, die ihn dialektisch oder sophistisch davon überzeugen sollen, dass die Partei immer recht hat.

Gewalttätige Repression. Technologische Überwachung. Ideologische Unterwerfung. Diesen drei Herrschaftstechniken entsprachen Phasen der Rezeption von «1984». Zuerst die antikommunistische Instrumentalisierung gegen die Repression im «Ostblock». Dann die Technikkritik anlässlich von Volkszählung und neuen Medien. Schliesslich die Ideologiekritik, die sich auch an so etwas wie am «Konsumterror» abarbeitete.

Dialektik der Herrschaft

Doch die Umerziehung reicht dem Regime nicht: Es geht ihm um Selbstunterwerfung des Einzelnen. «Wenn du dich uns schliesslich fügst, muss es aus freiem Willen geschehen», erklärt der Folterer in der Übersetzung von Eike Schönfeld. «Wir bekehren den Häretiker, wir übernehmen sein innerstes Denken, wir formen ihn um. Wir brennen alles Böse und alle Illusionen aus ihm heraus, wir holen ihn auf unsere Seite, nicht dem Schein nach, sondern echt, mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, erst dann töten wir ihn.»

Wie sieht es heute mit dieser Selbstunterwerfung aus? Bereits 1999 wurde im holländischen Fernsehen erstmals die Sendung «Big Brother» ausgestrahlt, die sich in Name und Prinzip explizit, wenn auch angeblich ironisch, auf Orwell berief. Sie hat in den vergangenen zwanzig Jahren Ableger in knapp siebzig Ländern gefunden. Das Format zeigt zwar Ermüdungserscheinungen, doch immer wieder spriessen neue Soziotope, in denen Menschen sich einem allgegenwärtigen öffentlichen Blick unterwerfen.

Dieser millionenfache fremde Blick wird nicht mehr als Überwachung empfunden, die Selbstentblössung ist sogar zum lockenden Ziel geworden. Selfies und Facebook inszenieren den freiwilligen Narzissmus als vermeintliche Selbstbestimmung. Die gerät allerdings ihrerseits in eine Dialektik der Herrschaft, da sie weiterhin von Algorithmen, überforderten KontrolleurInnen und der Unzuständigkeitserklärung von Mark Zuckerberg gesteuert wird.

Dagegen wird zuweilen ein wenig nostalgisch das Gegenbild beschworen. In England ist kürzlich ein grafisch schön gestalteter Band mit dem ebenso einfachen wie programmatischen Titel «Orwell on Truth» erschienen. Er versammelt Passagen aus Essays und Romanen, in denen Orwell gegen die Verschleierung der Wahrheit ankämpfte. Seine Worte seien, heisst es einleitend, «eine perfekte Verteidigung gegen unsere Welt voller Fake News und Verwirrung jenseits der Wahrheit». Der «Heilige George» wird als aufrechter, ehrlicher, auch pragmatisch englischer Denker präsentiert, der alle Phrasen und Lügen mit dem Schwert der Wahrheit durchhaut.

Als Fürsorge getarnte Drohung

Aber reichen gute Absicht und eine reine Sprache gegen Fake News? Orwell ist da zuweilen schlauer als seine VerehrerInnen. Zuerst einmal geht es um die Analyse der Lüge, bevor man sie treuherzig bekämpfen kann. Das Regime in «1984» ist ein vielfach gegliedertes, komplex austariertes Ganzes.

Wie wird das nun in den neuen Übersetzungen umgesetzt? Orwells Sprache ist nicht eben avantgardistisch oder avanciert, sondern zumeist Gebrauchsprosa. Da können sich die verschiedenen deutschen Versionen nicht stark unterscheiden, obwohl oder gerade weil sich auch renommierte Leute dahinter gemacht haben: etwa Eike Schönfeld (Insel), Frank Heibert (Fischer), Gisbert Haefs (Manesse) oder Lutz-W. Wolff (dtv); ferner Jan Strümpel (Anaconda), Karsten Singelmann (Rowohlt), Simone Fischer (Nikol), Holger Hanowell (Reclam). In zwei Bereichen allerdings zeigen sich doch unterschiedliche Herangehensweisen. Erstens bei den klassischen Slogans. Zweitens beim Konzept von «Neusprech».

«Big Brother is watching you»: Das Schlagwort wird in fünf verschiedenen Versionen übersetzt, alles in Grossbuchstaben geschrieben. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH. DER GROSSE BRUDER WACHT ÜBER DICH. DER GROSSE BRUDER HAT DICH IM BLICK. BIG BROTHER IS WATCHING YOU. DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH. Die englische Version zu belassen, ist eine Verlegenheit, die sich als Besonderheit tarnt, «im Blick haben» klingt abschwächend bürokratisch, «sehen» und «beobachten» sind sachlich nüchtern. «Der Grosse Bruder wacht über dich» – das spielt mit der Doppeldeutigkeit und trifft die als Fürsorge getarnte Drohung wohl am besten.

Des Grossen Bruders zentrale Mittel, das bisherige Wahrheitsverständnis zu zerstören, sind Neusprech und Doppeldenk. Durch Doppeldenk sollen alle Worte das Gegenteil dessen ausdrücken, was sie bisher bedeuteten. Wenn also das Land Ozeanien, in dem der Grosse Bruder herrscht, Krieg führt, so bedeutet das Wort, dass er in Wahrheit für den Frieden arbeitet. Die drei Slogans der Partei heissen: «Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.» Da werden nicht ganz unübliche Euphemismen ins kräftige Paradox zugespitzt. So weit, so eingängig.

Mit Neusprech geht es dem Regime allerdings darum, «alle anderen Denkweisen unmöglich zu machen». Orwell hat etliche Mühe darauf verwendet, eine die Realität verformende Sprache auf eine linguistisch überzeugende Weise zu entwerfen; tatsächlich liebäugelte er eine Zeit lang mit der Sprachreformbewegung und einem Versuch wie Basic English. Neben Euphemismen treten als grundlegende Techniken Zusammenziehung, Abkürzungen, Zusammensetzungen.

Dabei geht es um die Vermittlungsfunktion von Sprache zwischen Denken und Realität. Das Wort «frei» konnte und durfte, heisst es bei Orwell, nur noch in konkreten Zusammenhängen und nicht mehr im alten politischen Sinn gebraucht werden, da, wie Eike Schönfeld übersetzt, politische und geistige Freiheit «nicht einmal mehr als Konzept existierten und daher zwangsläufig namenlos waren». Neusprech soll also die gewaltsam geänderte Wirklichkeit abbilden, doch sie zugleich absichern und versteinern. Frank Heibert konstruiert gleich, macht aber aus dem «namenlos» ein «bezeichnungslos», was unmerklich holpert. Gisbert Haefs und Lutz-W. Wolff übersetzen die «concepts» von politischer und geistiger Freiheit als «Begriffe», die namenlos bleiben müssten; doch damit wird die politische Vorstellungskraft reduziert und die Aussage tautologisch, da Begriffe ja bereits Namen sind. Wenn es andererseits bei Jan Strümpel heisst, es habe die politische Freiheit «nicht einmal mehr als Idee» gegeben, und daher sei sie «zwangsläufig unbekannt» gewesen, dann gerät die verhaltensprägende Kraft der Sprache zwischen Idee und Realität ganz aus dem Blick.

Unterwürfige Liebe

Zum Schluss des Romans scheint die einverständige Unterwerfung auch bei Winston Smith erreicht. «Alles war gut, der Kampf war vorbei. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Grossen Bruder.» Es ist ein starkes Bild, aber Orwell erreicht es nur mit einer Hilfskonstruktion. Denn der letzte Anstoss zu dieser unterwürfigen Liebe ist die im Teleschirm verkündete Meldung, die Heere des Grossen Bruders hätten einen gloriosen Sieg errungen. Das wirkt wie angeklebt, reduziert die vielfältigen Unterwerfungstechniken des ganzen Romans unnötig auf eine einzige.

Die grösste Lücke des Romans besteht, krude gesagt, darin, dass er sich nur um den Mittelstand kümmert. Die Proles, «fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung», kommen nur als dumpfe Masse vor, zu einem bestimmten Zeitpunkt für den Intellektuellen Smith eine naive Hoffnung, dann wieder blosse Staffage. Das ist fiktional gerechtfertigt. Aber es lässt die soziale Verankerung ein wenig in der Schwebe. Dass sich IdeologInnen auf, sagen wir, Trump eingelassen haben, liegt in der Luftigkeit ihrer Ansichten begründet, wie sie immer wieder beklagt worden ist. Dieser Klage drohen ihrerseits zwei Gefahren. Die erste ist ein Anti-Intellektualismus, wenn komplexes Denken abgewertet oder ihm generell Käuflichkeit unterschoben wird. Dem erlag Orwell gelegentlich, da er sich rühmte, das einfache Volk zu vertreten.

Die zweite Gefahr besteht umgekehrt darin, die Situation der Intellektuellen für die ganze Gesellschaft zu verallgemeinern. In der Konsequenz werden politische Auseinandersetzungen auf den Kampf der Werte reduziert. Das betrifft die aktuelle Frage, wie sie gegenwärtig am Populismus diskutiert wird: Werte oder Interessen? Bedient der neuere Populismus vor allem kulturell-moralische Werte oder gibt es weiterhin eine «politische Ökonomie des Populismus», worauf etwa der Politologe Philip Manow beharrt? Orwell verbleibt in seinem Roman bei der politischen Instrumentalisierung von Werten. Zu deren Analyse liefert er aber eine Fülle von Bildern und Anregungen.

George Orwell: «1984».

Übersetzt von Eike Schönfeld. Insel Verlag. Berlin 2021. 382 Seiten, 32 Franken.

Übersetzt von Gisbert Haefs. Nachwort von Mirko Bonné. Manesse Verlag. München 2021. 448 Seiten, 34 Franken.

Übersetzt und mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff. Mit einem Vorwort von Robert Habeck. Dtv. München 2021. 416 Seiten, 34 Franken.

Übersetzt von Jan Strümpel. Anaconda Verlag. München 2021. 400 Seiten, 12 Franken.

Übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2021. 336 Seiten, 19 Franken.

Übersetzt von Karsten Singelmann. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Hamburg 2021. 416 Seiten, 16 Franken.

Übersetzt von Simone Fischer. Nikol Verlag. Hamburg 2021. 400 Seiten, 13 Franken.

Übersetzt von Holger Hanowell. Reclam Verlag. Ditzingen 2021. 370 Seiten, 16 Franken.