Zweite Welle in Indien: Die überforderte Weltapotheke

Nr. 17 –

Die Pandemie wird zur Zerreissprobe für Indiens Gesundheitssystem. Der Subkontinent ringt nach Sauerstoff, die Regierung um ihren Rückhalt.

Seit er angeboten hat, in Mumbai medizinischen Sauerstoff zu vermitteln, hört sein Telefon nicht mehr auf zu klingeln. «Mich erreichen viele Klagen aus verschiedenen Teilen der Stadt», sagt Chinu Kwatra. An manchen Tagen mache ihn das niedergeschlagen und erschöpft. Kwatra, dreissig Jahre alt, ist stadtbekannt: wegen seines Freiwilligenprojekts «Beach Warriors» zur Reinigung von Stadtstränden und wegen seiner Initiative «Roti Ghar», die benachteiligte Kinder mit warmen Mahlzeiten versorgt. Seit kurzem sind er und sein Team aber wieder im Coronaeinsatz: Auf Social Media reissen die Hilferufe nach medizinischem Sauerstoff, Medikamenten und Intensivbetten nicht ab.

Anzeichen der Überforderung

Aufgrund seiner Pharmaindustrie wird Indien gerne als «Apotheke der Welt» bezeichnet. Nach der ersten Ansteckungswelle im letzten Jahr war die Produktion von Arzneimitteln, die bei Covid-Behandlungen verabreicht werden, aber zurückgefahren worden. Die Regierung versäumte es, Vorräte anzulegen – und als die Infektionszahlen wieder rasant anstiegen, reagierte sie mit einem Exportverbot. Ähnlich sieht es bei der Produktion des Astra-Zeneca-Impfstoffs aus, dessen Lieferumfang an die globale Covax-Initiative vor einigen Wochen begrenzt wurde.

Das sind nur ein paar von vielen Anzeichen dafür, wie sehr Indien vom jüngsten Infektionsanstieg überrollt wurde. Spitäler, Krematorien und Friedhöfe sind komplett überlastet. «Die Bilder aus Indien sind erschreckend», sagt Chinu Kwatra, «aber sie zeigen, wie es ist.» Zusammen mit seinem kleinen Team versucht er sein Möglichstes. «Im vergangenen Jahr sind Menschen und Organisationen gemeinsam aufgestanden und haben sich gegenseitig unterstützt», sagt er, «das müssen wir nun wieder tun.»

Vereinzelt machen sich die Auswirkungen lokaler Ausgangssperren zwar langsam bemerkbar, aber zu Beginn dieser Woche wurde in Indien die Marke von insgesamt siebzehn Millionen Infektionen seit Beginn der Pandemie überschritten, knapp 200 000 Menschen sind bereits an einer Covid-19-Erkrankung gestorben.

So lauten zumindest die offiziellen Zahlen. ExpertInnen zweifeln an deren Verlässlichkeit. Lokale Medien haben gezeigt, wie sich in Städten wie Ghaziabad oder Ahmedabad lange Schlangen vor den Krematorien bildeten. Der US-Epidemiologe Eric Feigl-Ding bezeichnete die Covid-Datenlage im indischen Fernsehen als «dürftig», was es erschwere, das tatsächliche Ausmass der Pandemie zu fassen. Seinen Hochrechnungen zufolge könnte die tatsächliche Zahl der Todesopfer bis August eine Million betragen.

Schon seit Wochen sind die Intensivstationen in Grossstädten chronisch überlastet. Dennoch dauerte es lange, bis Premierminister Narendra Modi vom Wahlkampf- in den Krisenmodus umschaltete: Mit seiner hindunationalistischen Regierungspartei BJP hatte er in zahlreichen Parlaments- und Lokalwahlen zu bestehen. Noch im letzten Monat besuchten hohe Kader der BJP und anderer Parteien Massenkundgebungen, so etwa im Bundesstaat Westbengalen, wo nun die Coronafallzahlen erneut ansteigen: In der Landeshauptstadt Kalkutta war zuletzt jede zweite Person, die getestet wurde, mit dem Virus infiziert.

Eine wichtige Rolle beim Anstieg der Infektionen spielt B.1.617: Die Virusvariante weist Merkmale der britischen und südafrikanischen Variationen auf und wird deshalb auch «Doppelmutante» genannt. Bereits wurde sie in den USA, in der EU und auch in der Schweiz nachgewiesen. «Nicht die Virusvarianten und die Mutationen sind die Hauptursache für den aktuellen Anstieg der Infektionen», sagt aber der indische Medizinethiker Anant Bhan: «Es sind die Varianten der Unfähigkeit und die Abkehr vom öffentlichen Gesundheitsdenken durch unsere Entscheidungsträger.» Die Sauerstoff-Versorgungskrise sei bloss die Spitze des Eisbergs, warnt Bhan. Darunter verberge sich ein insgesamt bröckelndes Gesundheitssystem.

Wie weit reichen fünf Kilo Getreide?

Schon nach der ersten Infektionswelle hatten viele Menschen in Indien ihr Einkommen verloren. Und mit den erneuten Lockdowns wächst die Furcht vor deren Konsequenzen. So hat etwa die Abwanderung aus den Städten aufs Land wieder eingesetzt. Die Regierung hat Lebensmittelrationen für bis zu 800 Millionen InderInnen versprochen; sie sollen je fünf Kilo Getreide erhalten. Es fragt sich, wie weit das reichen wird, um das Schlimmste abzuwenden.

Der Höhepunkt der zweiten Welle dürfte im Mai anstehen. Aus dem Ausland wurde Unterstützung versprochen, etwa aus Grossbritannien, den USA und Europa – und selbst vom Erzfeind Pakistan. Aus Singapur hat Indien bereits Sauerstofflieferungen erhalten. Dem Ansehen der Regierung in der Bevölkerung scheint die Krise zusehends zu schaden; auf Social Media geriet sie vermehrt unter Beschuss. Seit ihrer Machtübernahme 2014 hat die BJP so gut wie jede Herausforderung gemeistert, aber es ist unklar, ob es ihr auch diesmal gelingt. Denn von der Pandemie sind nicht nur marginalisierte Bevölkerungsteile betroffen, sondern auch die einflussreichen Eliten.

Dass der Druck gross ist, spiegelt sich auch darin wider, dass Modis Regierung unter anderem von Twitter forderte, kritische Kommentare zu löschen. Umso irritierender, dass der Konzern der Aufforderung teils nachgekommen ist.