Karl Rühmann: Brieffreundschaft unter Kriegsverbrechern

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«Gibt es eine Wahrheit, irgendwo zwischen allen Zeilen, zwischen allen Welten?» Um diese Frage kreist Karl Rühmanns Briefroman «Der Held» in einer Spiralbewegung wie im japanischen Film «Rashomon» – wobei erstens die Beschreibung «Briefroman» nicht ganz zutrifft und es zweitens um die schwierigste aller Wahrheiten geht: jene, die sich nach dem Krieg ins Reich der Verdrängung und der Unwägbarkeit verabschiedet hat.

Zwei hohe Offiziere verfeindeter Seiten beginnen während ihrer fünf Jahre währenden Untersuchungshaft in Den Haag so etwas wie eine Freundschaft. Dann wird einer freigesprochen und der andere verurteilt. In einem unwahrscheinlichen und für viele Kriegsbetroffene auch skandalösen Briefwechsel tauschen sich die beiden ehemaligen Kriegsgegner erst über scheinbare Belanglosigkeiten aus – über die Wildbienenkolonie auf dem Anwesen des freigelassenen Generals etwa, auf das sich dieser zurückgezogen hat, anstatt sich von der Nation als Held feiern zu lassen.

Im Verlauf des Briefverkehrs kreisen die beiden aber «wie Geier, die auf den Tod ihrer Beute warten», immer wieder um das Thema der Schuld und um ein bestimmtes Ereignis während des Krieges, das auch bei der Untersuchung in Den Haag eine Rolle spielte. Hinter einer trügerischen Höflichkeit leuchtet immer deutlicher die alte Feindschaft wieder auf. Der Verurteilte bringt das Dilemma auf den Punkt: «Ein Soldat macht sich im Krieg immer schuldig, nur nicht immer vor derselben Instanz. Die strengste Instanz ist offensichtlich das eigene Gewissen, das sich dann am lautesten meldet, wenn man von all den anderen Instanzen Absolution bekommen hat.»

Gesprengt wird diese traute epistolarische Zweisamkeit von Ana – der Witwe eines Majors, der unter dem General gekämpft hat –, die vom General als Haushälterin angestellt wird. Während wir die Stimmen der beiden Offiziere nur über ihre wohlformulierten Briefe zu hören bekommen, befindet sich Ana in einem inneren Zwiegespräch mit ihrem verstorbenen Gatten, über dessen angeblichen Suizid sie nie genauere Informationen erhalten hat. Sie verkörpert im Roman die Rolle der Bevölkerung, die mit dem Krieg nicht abschliessen kann, weil sie mit ihren Fragen alleine gelassen wird. Als Ana den Briefwechsel des Generals mit dem ehemaligen Feind entdeckt, beginnt sie, diesen heimlich mitzulesen und durch diese Aneignung der bisher unbekannten Vergangenheit auch ein Stück Macht über den Fortgang der Ereignisse zurückzugewinnen.

Die Struktur von «Der Held», der für den Schweizer Buchpreis nominiert war, ist trügerisch einfach. Doch Rühmann schafft es damit sowie mit feinen sprachlichen Nuancen, sowohl die komplexen Verhältnisse der Figuren zueinander als auch zur Wahrheit und zur Schuldfrage auszuloten. Wenn Ana die Stimme des Generals zu Beginn noch «weich und dunkelgrün» vorkommt, ändert sich dieser Eindruck in der Folge der Romanhandlung, die sich der Wahrheit immer mehr annähert, ohne sie je eindeutig festzumachen: «Die Farbe seiner Stimme passt nicht zum Inhalt seiner Worte, so als wäre ich in einem schlecht synchronisierten Film.»

Es ist diese latente kognitive Dissonanz, die sich wohl nach allen Kriegen zwangsweise einstellt, für die der Autor eine beeindruckende literarische Form und Sprache findet. Die Hinweise, dass sich die Ereignisse von «Der Held» im ehemaligen Jugoslawien abspielen, sind zwar deutlich. Aber Rühmann wollte, wie er sagt, alle anderen Bürgerkriege nicht zu einfach davonkommen lassen.

Der Autor liest an den Literaturtagen am Samstag, 15. Mai 2021, um 13 Uhr.

Karl Rühmann: Der Held. Roman. Verlag Rüffer und Rub. Zürich 2020. 260 Seiten. 30 Franken