Martina Clavadetscher: Aus Papier und Fantasie

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Was empfindet ein Roboter? Wie denkt ein programmierter Kopf? Kann künstliche Intelligenz über sich hinauswachsen? Das Faszinierende am neuen Roman von Martina Clavadetscher ist, wie sie diesen alten Fragen auf neuen Wegen begegnet.

Künstliche Intelligenz ist bei ihr nicht etwas Fremdes, Geheimnisvolles, Anderes. Nichts, das wir beschränkten Bioköpfe mühsam ergründen und kontrollieren müssen, sondern etwas, das immer schon unter uns war. Und das mit mal verwunderten, mal verständnislosen, dann wieder ahnungsvollen Augen auf uns zurückblickt. Bis wir uns irgendwann gar nicht mehr sicher sind, ob in dieser erfundenen Welt von «Die Erfindung des Ungehorsams» überhaupt noch ein einziger Biomensch alter Bauart unterwegs ist.

Am Ende blättert man zurück an den Anfang und staunt, was man dort alles übersehen hat. Anstatt also einen Keil zwischen Menschen und künstliche Wesen zu treiben, schmiedet Clavadetscher neue Allianzen. Etwa indem sie uns daran erinnert, dass fiktionale Figuren zu den ältesten künstlichen Wesen gehören: diese programmierten Wunschgeburten aus Fantasie, Papier und Schriftzeichen, die, fortgepflanzt in die Köpfe der LeserInnen, ein widerspenstiges Eigenleben entwickeln, das weit über die Programmierung hinausgeht.

Die verschachtelte Geschichte beginnt in einer Penthouse-Wohnung in Manhattan und wechselt dann an weitere Schauplätze: in eine Sexpuppenfabrik in der chinesischen Stadt Shenzhen; zu einem Hongkong-Liebesfilm aus dem Jahr 1992; in die britische Grafschaft Leicestershire Anfang des 19. Jahrhunderts, wo Augusta Ada Lovelace, geborene Byron, auf den Erfinder der ersten Rechenmaschine trifft und ihn mit ihrem eigenen Maschinenwissen locker überrundet. Der allzu früh entleibte Geist dieser hochbegabten Tochter eines Dichters mit ihrer Leidenschaft für Mathematik schwebt wie eine historische Schutzgöttin über den Protagonistinnen von heute.

Die New Yorkerin Iris hält vor zwei seltsamen Besucherinnen nächtelange Vorträge – und wird ihrem Partner immer unheimlicher. Sie erzählt von Ada, aber auch andeutungsreich von ihrer «Halbschwester Ling». Diese arbeitet als Produkteprüferin in der Sexpuppenfabrik und lebt in einer Art Ménage-à-trois mit einer kopflosen Puppe aus der eigenen Produktion und einem rührenden Verehrer, der als Wachmann in derselben Fabrik angestellt ist.

Zusammen mit einer Spezialistin aus London arbeitet Ling an der nächsten intelligenten Puppengeneration. Und schraubt ihrer stummen Gefährtin – oder Verwandten? – auf dem Sofa eines Tages bald auch einen solchen mit neuen Schaltkreisen bestückten Kopf auf den Hals. Immer wieder schauen sie sich zusammen den nur in der Welt des Romans existierenden Film «Paradise Express» an. Dessen Hauptdarstellerin komplettiert den Figurenreigen, indem sie Lings Sehnsüchte spiegelt und nährt.

Statt wie so oft das männliche Schöpfergenie und seine Kreatur oder ein martialischer Aufstand der Maschinen stehen bei Clavadetscher also die erfundenen weiblichen Eigenwilligen im Zentrum. Ihr KI-Roman wird so zur poetischen Hommage an die älteste Programmiersprache von allen, die Fantasie.

An den Literaturtagen tritt die Autorin am Freitag, 14. Mai 2021 und 10.30 Uhr, am Samstag, 15. Mai 2021, um 20 Uhr, und am Sonntag, 16. Mai 2021, um 16 Uhr auf.

Martina Clavadetscher: Die Erfindung des Ungehorsams. Roman. Unionsverlag. Zürich 2021. 288 Seiten. 32 Franken