Die europäische Sicht: Nach dem Scheitern ist vor der nächsten Verhandlung

Nr. 22 –

Das Rahmenabkommen mit der EU wurde jahrelang erfolglos verhandelt, nun ist es Geschichte. Wie beurteilt die Linke in Brüssel das Scheitern? Gewerkschaftsführer Luca Visentini und Grünen-Politiker Sven Giegold nehmen Stellung.

Die offizielle Reaktion aus Brüssel fiel so frostig wie floskelhaft aus. Man nehme «diese einseitige Entscheidung» zur Kenntnis, liess die EU-Kommission verlauten, nachdem der Bundesrat Ende Mai nach mehr als sieben Jahren die Reissleine beim Rahmenabkommen gezogen hatte. Man «bedauere» den Schritt und werde die Folgen «sorgfältig analysieren».

Umso deutlicher wurde hingegen die europäische Presse: «Die Schweiz sägt an der Brücke zu Europa», schrieb die «Süddeutsche Zeitung», von einem drohenden «Schwexit» sprach die «taz», einen «Paukenschlag» machte «Le Monde» aus. Die «Financial Times» beklagte ein «diplomatisches Scheitern» für Brüssel; Bern habe der EU «die kalte Schulter gezeigt», konstatierte das einflussreiche Onlinenachrichtenportal «Politico». In Grossbritannien empörte sich der Boulevard über die «Brüssel-Tyrannen» und jubelte über die «weitere blutige Nase» für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

So weit, so erwartbar. Wie aber beurteilt die europäische Linke den Abbruch der Verhandlungen? Zwei Anrufe in Brüssel sollen ihre Positionen klären.

«Best-Case-Szenario»

Ein bestens gelaunter Luca Visentini lacht am frühen Montagmorgen vom Bildschirm. Der Italiener ist Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, dem 89 nationale Organisationen angehören, und hat sich in den vergangenen Jahren wiederholt für dessen Schweizer Mitglieder ins Zeug gelegt. Brief um Brief schrieb er an von der Leyen, versuchte die verschiedenen AkteurInnen an einen Tisch zu bringen und warb um Verständnis für den Wunsch, den Lohnschutz nicht zu schwächen. Vergeblich.

Natürlich sollte man sich nie über einen Verhandlungsabbruch freuen, sagt Visentini, doch angesichts der Schwierigkeiten erachtet er das Ende des Rahmenvertrags als «Best-Case-Szenario». Gar kein Abkommen sei schliesslich immer noch besser als ein schlechtes. «Für die Schweizer Gewerkschaften ist das ein wichtiger Schritt im Bemühen um einen besseren Schutz für die Arbeiter.» Und das nütze auch den EuropäerInnen: Seien diese nämlich bei ihrer Arbeit in der Schweiz nicht durch flankierende Massnahmen geschützt, drohe Lohndumping – und damit die Ausbeutung von EU-BürgerInnen.

Der 52-Jährige beklagt den fehlenden Einsatz der Kommission für tragfähige Lösungen und kritisiert ihren Druck auf die Schweiz. «Die Entsenderichtlinie besagt, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort gleicher Lohn gilt. Bei der Umsetzung der Regeln in den Mitgliedsländern darf sich die EU nicht einmischen, also sollte sie dies auch nicht bei einem Drittland wie der Schweiz tun», findet Visentini.

Schizophrene Strategie

Auf der einen Seite poche Brüssel bei neuen Freihandelsverträgen stets auf die Einhaltung oder Verbesserung des Arbeits- und Umweltschutzes – und dann dränge man gleichzeitig die Schweiz, ihre Schutzmassnahmen zu verwässern, die für andere europäische Länder ein Massstab seien? «Das ist doch schizophren.» Visentini verweist auf die in der EU anstehende Revision einer Verordnung zur Koordinierung sozialer Sicherungssysteme. Dabei stritten die Mitgliedstaaten zurzeit über flankierende Massnahmen ähnlich jenen in der Schweiz. Und gerade die Kommission würde auf deren Einführung bestehen.

Anders schätzt einige Stunden später Sven Giegold die Gemengelage ein. Der Grünen-Abgeordnete tönt am Telefon verärgert und feuert eine Empörungssalve nach der anderen ab. «Traurig» sei das Ende der Verhandlungen, «eine politische Dummheit», dass die EU Forderungen gestellt habe, von denen sie vorher gewusst hatte, dass sie die europapolitische Allianz in der Schweiz spalten würden. Zwar könne er die Anliegen der Schweizer Gewerkschaften nachvollziehen, ihre Verhandlungsposition kritisiert er allerdings als «wenig pragmatisch».

Weil sich die Schweizer Akteure in ihren roten Linien verrannt hätten, sei der Abbruch innenpolitisch ein Befreiungsschlag, glaubt Giegold. Doch mit einer innenpolitischen Brille lasse sich keine Aussenpolitik machen. «Aus meiner Sicht als besserwisserischer Deutscher ist das nach den Erfahrungen mit Donald Trump und dem Brexit das dritte Beispiel dafür, dass es mit Rechtspopulisten in der Regierung nicht gut herauskommt. Wenn man zuerst drei Forderungen stellt und dann auf zweieinhalb davon beharrt, ist das kein Kompromiss. Darauf kann man nur kommen, wenn man immer nur Schweizern zugehört hat.»

Giegold, der seit über zehn Jahren im EU-Parlament sitzt, ist der stellvertretende Vorsitzende der Delegation, die sich um die Beziehungen zur Schweiz kümmert. Er sagt: «Nach dem Scheitern ist vor der nächsten Verhandlung.» Die verschiedenen Sektorabkommen würden immer mehr veralten, irgendwann müssten die daraus entstehenden Probleme gelöst werden, daran führe kein Weg vorbei.

Sozialpolitische Fortschritte

Welche Folgen der Verhandlungsabbruch konkret haben wird, ist zum heutigen Zeitpunkt schwer abzuschätzen. Zwar bleiben die bilateralen Verträge weiterhin in Kraft, die EU behält sich aber politische Reaktionen vor. Nicht erneuern will sie zurzeit beispielsweise das Abkommen über Medizinprodukte, das letzte Woche ausgelaufen ist. Für Schweizer Firmen bedeutet das einen schwierigeren Zugang zum Binnenmarkt.

Ein weiteres Opfer ist die Forschungskooperation Horizon, von der die Schweiz ausgeschlossen bleibt, bis sie die Kohäsionszahlungen überweist, die sie der EU schuldet und die das Parlament blockiert hat. Der Bundesrat will sich nun für eine baldige Freigabe der Gelder einsetzen. Zudem lässt er das Departement von Justizministerin Karin Keller-Sutter prüfen, welche Gesetze freiwillig an EU-Regeln angepasst werden können. Andere Pläne hat die Landesregierung nicht präsentiert.

Gewerkschaftsführer Visentini hofft darauf, dass die EU auf weitere Vergeltungsschläge verzichtet und mit der Schweiz im Dialog bleibt. «Aber natürlich dürfen wir nicht naiv sein.» Der EU attestiert er derweil eine positive sozialpolitische Entwicklung. Der kürzliche Gipfel in Porto mit Vertreterinnen der Institutionen, den Sozialpartnern und einem Teil der Staats- und Regierungschefs, der eben verabschiedete «Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte» – eine Art Regelwerk für ein sozialeres Europa –, die laufenden Debatten über Mindestlöhne und Gesamtarbeitsverträge: Gerade im Vergleich zur Austeritätspolitik nach der Finanzkrise mache die EU grosse Fortschritte. «In ein, zwei Jahren werden wir hoffentlich eine komplett andere Ausgangslage haben – und dann vielleicht auch eine andere Basis für Beziehungen zu Ländern wie der Schweiz.»

Dass ein sozialeres Europa quasi vor der Tür steht, glaubt Grünen-Politiker Giegold hingegen nicht. Die Säule sozialer Rechte hält er für einen «Papiertiger». Zwar sieht auch er durchaus Fortschritte, bei der Steuerpolitik etwa, der Reform der Entsenderichtlinie oder einer solidarischen Finanzierung wie dem Corona-Wiederaufbaufonds. Doch für eine Harmonisierung im Sozialbereich fehle derzeit der Handlungswille, so der 51-Jährige. Letztlich werde Sozialpolitik noch immer national gemacht. «Ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.»