Schweizer Drogenpolitik: Die Prohibition ist gescheitert – es lebe der freie Markt?
SuchtexpertInnen fordern längst eine weitgehende Regulierung von Betäubungsmitteln. Nun ist die Debatte auch in der Politik angekommen. Die im Mai angelaufenen Cannabisversuche zeigen, in welche Richtung es gehen könnte.
«Der agile Marktführer» steht auf dem Eingangsschild der Pure Holding im aargauischen Zeiningen. Nichts hier soll Assoziationen mit der gemeinen Hanfwelt wecken. Dabei startete die Anlage einst sehr gewöhnlich: mit einem Gründer, der sich zuvor im Vergnügungsparkbusiness, als Besitzer eines Grow-Shops und im Bereich 3-D-Druck versucht hatte.
2015 kaufte Stevens Senn in Zeiningen eine alte Gartenbauanlage, um Cannabispflanzen für den legalen Verbrauch zu züchten. Heute ist er CEO und «Chairman of the Board», auf der Unternehmenswebsite wird er als «selfmade serial entrepreneur» beschrieben. In den letzten Jahren wurde seine Firma sukzessive von smarten ETH-ForscherInnen übernommen. Als Erster stieg 2016 ein Pflanzenforscher ein, der sich in seiner Masterarbeit mit der Cannabiszucht beschäftigte. Heute arbeiten in Zeiningen fünfzehn ETH-ForscherInnen, der «Hanfhof» wurde zu einem «Campus».
Der Cannabismarkt steht vor einem Umbruch, und Pure ist bestens positioniert. Inzwischen zählt das Unternehmen sechs Tochterfirmen und 85 MitarbeiterInnen. Chief Operating Officer Lino Cereghetti spult routiniert eine Powerpoint-Präsentation ab: Kooperation mit dem israelischen Genetikunternehmen NR Gene, Vertriebsstandorte in Luxemburg und Deutschland. 2020: Einstieg des einstigen deutschen FDP-Gesundheitsministers Philipp Rösler.
Seit der Legalisierung von CBD-Hanf (der nur nichtpsychotrope, also nicht berauschende Cannabinoide enthält) handelt das Unternehmen im grossen Stil mit CBD-Produkten. Mitte Mai nun ist in der Schweiz der sogenannte Experimentierartikel in Kraft getreten; erstmals wird damit im Rahmen von Versuchen die legale Abgabe von berauschendem Hanf zu Genusszwecken möglich. Städte und Kantone können beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) entsprechende Forschungsprojekte eingeben, von denen sich das BAG wissenschaftliche Erkenntnise für eine mögliche Legalisierung erhofft. Bereits letztes Jahr hat Pure beim BAG mehrere Ausnahmebewilligungen beantragt, um mit Pflanzen zu experimentieren, die mehr als ein Prozent des rauscherzeugenden THC enthalten.
Das BAG gab grünes Licht. Und die Forscher in Zeiningen sind gerade dabei, die Cannabiszucht zu revolutionieren: Sie haben das Genom der Cannabispflanzen entschlüsselt – und können so exakt erforschen, welche Gene für bestimmte Geschmacksrichtungen, Blütengrössen, einen bestimmten THC-Gehalt oder eine besonders gute Resistenz verantwortlich sind. «Zum Beispiel Erdbeergeschmack und ein hoher CBD-Gehalt», sagt Cereghetti, der jetzt durch die «Züchtungs-Pipeline» führt. Es öffnet sich ein Raum voller luftdichter weisser Säcke mit Pflanzenkreuzungen. Von der Genforschung über den Anbau bis zum Vertrieb: Pure will überall vorne mit dabei sein. Massgeschneidert soll sie werden, die Zukunft der Cannabisproduktion.
Weniger Fasnacht, mehr Streetparade
Es ist wie nach einer langen Eiszeit: Plötzlich taut es. Nachdem die Politik jahrelang kaum mehr über eine liberalere Drogenpolitik diskutierte, wird ein Paradigmenwechsel denkbar – nicht nur beim Cannabis. In seinen «Perspektiven der Drogenpolitik 2030» kündigt der Bundesrat an, «die Vor- und Nachteile des Sanktionsverfahrens» zu prüfen (vgl. «Chancen und Risiken einer Legalisierung» im Anschluss an diesen Text). Will heissen, die Regierung denkt über eine Entkriminalisierung des Konsums nach. Ein Schritt, wie ihn Portugal schon 2001 gegangen ist, ohne dass der Konsum seither zugenommen hätte. Die FDP der Stadt Zürich will noch weiter gehen: Sie fordert, auch Produktion und Handel von sogenannt harten Drogen zu legalisieren und zu regulieren.
Zoom-Schaltung zu Toni Berthel. Der Psychiater präsidierte bis 2019 die Eidgenössische Kommission für Suchtfragen (EKSF), die inzwischen in Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (EKSN) umbenannt wurde. Mit der EKSF hat Berthel im September 2019 eine Studie zu zehn Jahren Betäubungsmittelgesetz herausgegeben. Darin plädiert die Kommission für eine Abkehr von der Prohibition. Sie schlägt vor, jegliche Suchtmittel zu legalisieren und jeweils ein geeignetes Regulierungsmodell zu schaffen. Berthel sagt: «Dass man für den Konsum nicht bestraft wird, ist das Minimum. Am allerwenigsten dürfen wir jemanden bestrafen, der süchtig ist. Man bestraft ja auch niemanden für eine Blinddarmentzündung.»
Nur den Konsum zu legalisieren, sei jedoch inkonsequent. «Es ist wichtig, dass wir die ganze Kette von Produktion und Handel legalisieren.» Sonst bliebe im Hintergrund der Schwarzmarkt mit seinen ganzen Kollateralschäden bestehen. Dazu, so Berthel, müsse man das ganze Thema des Konsums nüchterner betrachten: «Es gibt diese Glaubenssätze: Einmal Drogen, immer Drogen. Das ist falsch.» Der Wunsch nach Rausch sei zudem so tief im Menschen verankert, «das kann man nicht mit Verboten und Kriminalisierung bekämpfen, das muss man akzeptieren». Zweitens gelte es auch den kulturellen Wandel zu berücksichtigen. «Es gibt weniger Fasnacht, dafür die Streetparade.» Neue Bewegungen brächten auch neue Substanzen mit sich: «Auf diese werden oft Ängste projiziert. Und über die Angst lassen sich ganze Bevölkerungsgruppen diskriminieren», sagt Berthel. «In der Nixon-Ära etwa wurde behauptet, Cannabis mache Menschen zu Tieren. Gemeint waren damit die Schwarzen. Ihnen und den weissen Kriegsgegnern galt der ‹War on Drugs›.»
Seit der Heroinkrise in den achtziger und neunziger Jahren setzt die Schweiz auf das sogenannte Vier-Säulen-Prinzip (Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression). 1994 führte das Land erstmals Versuche mit ärztlich kontrollierter Heroinabgabe für Schwerstabhängige durch. Diese wurde zum Erfolgsmodell – und die Schweiz zur Vorreiterin in Sachen Drogenpolitik. Zu Zeiten des öffentlichen Heroinelends, so Berthel, habe die Drogenproblematik ganz oben auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung gestanden – und später wieder an Konjunktur verloren. Der letzte Versuch einer Revision des Betäubungsmittelgesetzes datiert vom Jahr 2001: Schon damals wurden im Rahmen der Vernehmlassung alle Abstufungen einer Entkriminalisierung diskutiert, bis hin zur vollständigen Regulierung. Schliesslich scheiterte SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss im Parlament knapp mit einer Vorlage, die zumindest eine weitgehende Legalisierung von Cannabis vorsah.
Druck aus den Städten
Berthel, der lange die Heroinabgabestelle in Winterthur leitete, sagt: «Blickt man auf die Heroinkrise zurück, kann man sagen, dass die Illegalität den grössten Schaden verursacht hat. Dass ein Gramm Heroin 500 Franken kostete, trieb die Leute in die Beschaffungskriminalität. Die illegal beschafften Spritzen sorgten für Abszesse, Infektionen und andere gesundheitliche Probleme. Im Prinzip ist es banal: Regulierung ist die bessere Antwort.» Bestes Beispiel dafür sei der Alkohol: «Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass der Konsum seit Jahren abnimmt, obwohl man nicht repressiv dagegen vorgeht.» Umso mehr gewirkt habe die Präventionsarbeit: «Heute wollen Jugendliche nicht mehr eine ‹Pizza legen› im Hauptbahnhof, sie achten mehr auf die Gesundheit.» Dafür seien andere Suchterkrankungen auf dem Vormarsch wie etwa die Orthorexie, eine Essstörung, bei der Betroffene zwanghaft gesund essen.
Berthel und andere SuchtexpertInnen würden am liebsten gleich das Betäubungsmittelgesetz, das bis heute Abstinenz als gesellschaftliches Ziel festschreibt, abschaffen – und stattdessen für jede Substanz regeln, unter welchen Bedingungen sie hergestellt, vertrieben und konsumiert werden darf. «Wie beim Alkoholgesetz», sagt Berthel: «Beim Bier kennen wir das Reinheitsgebot und klare Jugendschutzbestimmungen. Wenn sich aber jemand ein LSD-Filzli bestellt, hat er keine Ahnung, was er bekommt.»
Berthel ist überzeugt: In einer freiheitlichen Gesellschaft brauchten Erwachsene keine «LebensführungsbesserwisserInnen». Das gelte auch für den Umgang mit psychoaktiven Substanzen. «Wie bei anderen Konsumgütern sollte der Staat die Rahmenbedingungen für Anbau, Verarbeitung und Verkauf sicherstellen und so für die Produkte- und Konsumentinnensicherheit sorgen. Der Konsument kann dann selber entscheiden, was und wie er etwas konsumieren möchte.»
Wie genau aber etwa eine Kokainabgabe aussehen könnte, kann nach Berthel noch nicht beantwortet werden: «Man müsste zuerst Versuche starten und sich an die Ausgestaltung von möglichen Modellen herantasten.» Klar sei, dass man die Preise so hoch ansetzen müsste, dass man keine Anreize schaffe – aber eben auch niedrig genug, um den Schwarzmarkt nicht weiter anzukurbeln. «Zudem darf es natürlich keine Werbung geben. Wir wollen ja nicht, dass mehr konsumiert wird, sondern, dass die heutige unbefriedigende Situation verbessert wird.» Und was hiesse Regulierung für Substanzen mit sehr starkem Suchtpotenzial wie Heroin oder Crystal Meth? «Da müssen wir sehr sorgfältig und vorsichtig vorgehen. Es ist möglich, dass man da noch lange bei der Abgabe an Schwerstabhängige bleiben muss.»
Von der FDP der Stadt Zürich ist kürzlich auf Kantons- und Stadtebene je eine Anfrage in den Parlamenten eingereicht worden. Sie zielen auf Artikel 19 b des Betäubungsmittelgesetzes, der lautet: «Wer nur eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den eigenen Konsum vorbereitet oder zur Ermöglichung des gleichzeitigen und gemeinsamen Konsums einer Person von mehr als 18 Jahren unentgeltlich abgibt, ist nicht strafbar.» Theoretisch sind also der Besitz und die Konsumvorbereitung von Kleinstmengen an Drogen schon heute nicht strafbar. Als erster wendet ausgerechnet der Kanton St. Gallen, der lange als eher repressiv galt, diesen Paragrafen auch bei sogenannt harten Drogen an.
Man wolle von den Zürcher Regierungen eine Antwort darauf, warum man dies nicht ebenfalls so handhabe, sagt der Stadtzürcher FDP-Gemeinderat Marcel Müller. In einem ersten Schritt wolle man die bestehende Rechtsgrundlage ausloten und bei der Entkriminalisierung des Konsums ansetzen. Auch Müller sagt jedoch: Wenn man den Konsum freigebe, müsse man auch den Handel legalisieren.
Immer reineres Kokain
Im Dezember 2020 gelang der Kantonspolizei Zürich der bislang letzte grosse Schlag gegen den Drogenhandel: Nach fünf Jahren Ermittlungen hob sie einen nigerianischen Drogenring aus, verhaftete insgesamt 200 Personen und beschlagnahmte 115 Kilogramm Kokain. Frank Zobel, Vizedirektor von Sucht Schweiz, der für eine 2018 publizierte interdisziplinäre Studie den Betäubungsmittelmarkt in der Waadt untersuchte, sagt: «Die Welt des Kokainhandels darf man sich nicht wie in einem Mafiafilm vorstellen. Es gibt keine Drogenbosse wie Pablo Escobar, alles ist viel dezentraler organisiert, viel flexibler.» Kleine Banden teilten den Markt unter sich auf, in der Schweiz seien vor allem westafrikanische Gruppen aktiv, «zunehmend aber auch Händler aus anderen Weltregionen wie dem Balkan oder aus Lateinamerika».
Mit Kokain wird im Schweizer Drogenmarkt mit Abstand am meisten Geld umgesetzt – allein in der Waadt lag das (hochgerechnete) Handelsvolumen pro Jahr zwischen 416 und 500 Kilogramm. Da sich die Westschweizer Studie gemäss den Autoren gut auf die Gesamtschweiz übertragen lässt, hiesse das: Landesweit werden pro Jahr wohl etwa fünf Tonnen Kokain konsumiert – eine Zahl, die von Untersuchungen des Abwassers bestätigt wird. Zobel schildert den Weg der Droge so: «Kriminelle Kartelle bringen die Ware zu den Häfen und verschiffen sie, meist mit der Rip-on-rip-off-Methode: Sie schmuggeln das Kokain in die Transportkisten, indem sie die Siegel entfernen und neu anbringen. In den europäischen Ankunftshäfen wie Rotterdam, Hamburg oder Le Havre gehen kooperierende Banden gleich vor: auf, raus, Siegel drauf.»
Die Kleinbanden aus der Schweiz schliesslich schicken zu den Lagerstätten in den Ankunftsländern wöchentlich KurierInnen, die die Ware auf verschiedensten Wegen über die Grenze schmuggeln. Laut Zobel hat ein Kilogramm Kokain nach der Herstellung einen Wert von tausend Franken. Bis zum Endverkauf an die Konsumentin vermehre er sich um das 150-Fache. Ein Haufen Menschen verdienten in vielen Ländern also enorm viel am Kokainhandel. «Das lässt sich kaum stoppen.» Auf internationaler Ebene funktionierten die Abkommen zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels nicht. «Und in der Schweiz beschlagnahmt die Polizei nur etwa 3 bis 12 Prozent der illegal gehandelten Drogen, beim Kokain 5 bis 10 Prozent.»
Auch die EKSF konstatiert in ihrem Bericht: «Die Prohibition ist gescheitert.» Kommissionsmitglied Christian Schneider, ehemaliger strategischer Analytiker für Drogenmärkte bei der Bundeskriminalpolizei und Ko-Vizepräsident der Nachfolgekommission, sagt: «Wenn man bedenkt, dass man sich heute mit wenig Aufwand jegliche Drogen beschaffen kann, muss man sagen: Ja, sie ist gescheitert.» Auf Kokain bezogen sagt Schneider: «Obwohl man in den letzten zehn Jahren verstärkt gegen nigerianische Kartelle vorgegangen ist, hat man nichts erreicht. Im Gegenteil: Der Reinheitsgrad ist viel höher als vor einigen Jahren. Das heisst, es ist so viel Stoff im Umlauf, dass sogar der Strassendealer problemlos kaum gestrecktes Kokain anbieten kann.»
Anruf beim Bundesamt für Gesundheit. Am Apparat: Adrian Gschwend, Leiter Sektion Politische Grundlagen und Vollzug. Frage: Warum folgt der Bundesrat nicht seiner Expertenkommission und verfolgt eine Strategie der konsequenten Regulierung? Es sei nicht so, dass der Bundesrat sich nicht traue, sagt Gschwend: «Er kann sich der Problemanalyse der Kommission, dass der Status quo mit dem Schwarzmarkt unbefriedigend ist, weitgehend anschliessen. Doch bislang gibt es keine Blaupause, noch hat kein Staat ein Modell für eine konsequente Regulierung geschaffen.» Das Betäubungsmittelgesetz einfach einmal abzuschaffen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, wohin die Reise gehen solle, so Gschwend, wäre daher verantwortungslos.
Und die sozialen Aspekte?
Eher zurückhaltend ist auch der Pharmakopsychologe Boris Quednow, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zu Substanzkonsum und dessen Folgen forscht: «Mich stört an dieser Debatte, dass es immer heisst: ‹Wir müssen jetzt alles freigeben› – aber dann legt keiner ein konkretes Konzept vor, das man ernsthaft diskutieren könnte.» Natürlich müsse man den Konsum so bald wie möglich entkriminalisieren, «sonst bestrafen und schädigen wir Schwerstbetroffene weiterhin zu Unrecht. Jede Substanz einzeln zu regulieren, wäre jedoch enorm komplex.» Und es stellten sich zahlreiche Folgefragen, etwa bei der Arzneimittelsicherheit. «Müsste man bei einer Legalisierung verschreibungspflichtige Medikamente ebenfalls neu regulieren? Oder stellen wir bei jetzt illegalen Substanzen dieselben Anforderungen wie etwa bei Antibiotika?» Für den Regulierungsweg gebe es schlicht nicht genügend Grundlagen, sagt Quednow. «So wissen wir zum Beispiel zu wenig über die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung, das letzte Suchtmonitoring stammt aus dem Jahr 2016.»
Natürlich, so Quednow, hätten psychoaktive Substanzen in der Menschheitsgeschichte immer eine Rolle gespielt, «aber jenseits vom Alkohol meist im Rahmen religiöser Riten». Der Freizeitkonsum dagegen sei kulturgeschichtlich relativ neu. «Und ich glaube, dass er heute trotz aller Fitness- und Ernährungsbewegungen in der gesellschaftlichen Breite stärker verankert ist als etwa vor dreissig Jahren. Viele suchen permanent einen potenzierten Erfahrungsraum, und das halte ich für eine gesellschaftlich schwierige Entwicklung.» Er wolle nicht moralisieren, sondern rede von einem Forschungsstandpunkt aus, betont Quednow: «Drogenkonsum wirkt sich nie nur individuell aus, sondern immer auch sozial. Mein Konsum hat Auswirkungen auf mein Umfeld. Je mehr Substanzkonsum, desto mehr systemische Probleme.» Dieser Aspekt werde vernachlässigt, weil er schwierig zu erforschen sei. «Aber wir wissen, dass regelmässiger Cannabis- oder Kokainkonsum viele Partnerschaften und Familien belastet, und das nicht erst, wenn eine Abhängigkeit besteht. Was wir hingegen noch nicht gut verstanden haben, ist, wie es sich sozial auswirkt, wenn jemand jedes Wochenende Kokain oder andere Partydrogen konsumiert.»
Der Psychologe befürchtet zudem, dass der legale Zugang zu Suchtmitteln den Konsum insgesamt steigern und mehr Abhängigkeiten schaffen würde. Eine umstrittene Annahme: Suchtexperte Frank Zobel sagt dazu, man könne zumindest für Cannabis bisher weder dies noch das Gegenteil nachweisen: «Aus US-Staaten und Kanada, wo Cannabis bereits legalisiert wurde, wissen wir, dass es einen gewissen ‹Curiosity›-Effekt gibt und die Anzahl der Erstkonsumenten leicht ansteigt. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass der Konsum bei der Jugend nicht zunimmt.» Zobel steht irgendwo zwischen Regulierungsbefürworter Berthel und Skeptiker Quednow: «Die Legalisierung einer so toxischen Substanz wie Kokain ist eine schwierige Sache, es gibt da null Erfahrung.» Für in naher Zukunft realistischer hält er die Regulierung von Partydrogen wie Ecstasy, da habe man wie beim Cannabis ein Kohärenzproblem: «Dass Alkohol legal ist, eine Substanz mit einem so geringen Suchtpotenzial dagegen verboten, lässt sich nicht aufrechterhalten.»
Hohe Steuern und ein Werbeverbot
Wie also weiter? In Bern seien die gesellschaftsliberalen Kräfte seit der letzten Legislatur gestärkt, sagt die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter, Allianzen für eine progressivere Drogenpolitik liessen sich daher leichter schmieden. «Eine solche brachten linke und liberale Kräfte ja auch schon in den neunziger Jahren zusammen auf den Weg.» Auch Sauter will im Grundsatz weg von der Repression, hin zur Regulierung. «Eine drogenfreie Gesellschaft ist eine Illusion. Wir müssen den Konsum als Realität akzeptieren und eine möglichst schadensmindernde Politik betreiben. Zentral ist der Jugendschutz.» Es brauche jetzt konkrete Erfahrungen in klar definierten Bereichen wie beim Cannabis, damit die Gesellschaft diesen Weg nachvollziehen könne.
Vorerst konzentriert sich die nationale Politik auf Cannabis: Die Gesundheitskommission des Nationalrats hat kürzlich eine parlamentarische Initiative von Mitte-Politiker Heinz Siegenthaler zur «Regulierung des Cannabismarkts für einen besseren Jugend- und Konsumentenschutz» überwiesen. BAG-Vertreter Gschwend sagt: «Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir im Sinne der Bevölkerung vorgehen, es gibt eine ganze Industrie, die in den Startlöchern steht.» Auch Frank Zobel warnt: «Die USA sind ein Beispiel, wie man es eben nicht machen sollte.» Dort habe man zu grosse wirtschaftliche Freiheiten walten lassen, grosse Konzerne wie Marlboro oder Tilray seien sofort ins Big Business eingestiegen: «Ohne enge Rahmenbedingungen verliert man schnell die Kontrolle und hat wie bei Tabakprodukten oder dem Alkohol sofort Lobbygruppen.» Es brauche deshalb hohe Steuern, ein striktes Werbeverbot und stark regulierte Verkaufskanäle. Zobel sagt aber auch, man dürfe sich die Welt nach der Cannabislegalisierung nicht als die gleiche vorstellen wie zuvor: «Es wird nicht einfach so sein, dass die gleichen kleinen Hanfshops ihre beim Kleinzüchter bezogenen Waren nun eben legal verkaufen. Wenn immer mehr Länder Cannabis legalisieren, bedeutet das eine enorme Transformation.»
Zurück in Zeiningen. In seiner Powerpoint-Präsentation ist Lino Cereghetti inzwischen bei einem Exkurs in die Menschheitsgeschichte angelangt: «Unsere Spezies koevoluiert schon seit 10 000 Jahren mit der Cannabispflanze», sagt der COO von Pure. Der Kommunikationsverantwortliche nickt. Über das Umsatzpotenzial eines legalen Marktes will man hier lieber nicht reden. Auch nicht darüber, woher das Geld für die Investitionen kommt – Pure hat bereits Millionen in sein Projekt gesteckt. Und hofft nun, dass auch in der Schweiz bald die nächsten Legalisierungsschritte folgen.
Der Bericht des Bundesrats : Chancen und Risiken einer Legalisierung
Die bundesrätlichen «Perspektiven der schweizerischen Drogenpolitik» sind eine Antwort auf ein Postulat von SP-Ständerat Paul Rechsteiner aus dem Jahr 2017, der darin argumentierte, die Vier-Säulen-Politik aus den neunziger Jahren sei überholt. Mit dem Bericht hat der Bundesrat dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Auftrag erteilt, allfällige Auswirkungen einer Entkriminalisierung des Konsums zu untersuchen, er verweist zudem auf die anlaufenden Cannabisversuche. Städte wie Bern, Basel, Zürich, Genf oder St. Gallen haben angekündigt, entsprechende Studien durchführen zu wollen. Damit wolle man Vor- und Nachteile der kontrollierten Abgabe prüfen, sagt Adrian Gschwend vom BAG: «Mit den Pilotversuchen sollen wissenschaftliche Grundlagen geschaffen werden für künftige Regelungen – ergebnisoffen, in guter Tradition, wie damals bei den Studien zur Heroinabgabe.» Dafür wolle man das ganze Spektrum vom Gelegenheitskonsumenten bis zur regelmässigen Kifferin einbeziehen – «und dann schauen, wie sich ein simulierter legaler Konsum auswirkt». Es gehe um Fragen wie: «Wird der Konsum risikoärmer? Können wir die Teilnehmer eher für Beratung gewinnen? Aber natürlich auch: Steigt der Konsum?»
Das wiederum könne durchaus zur Blaupause für andere Substanzen werden, sagt Gschwend: «Ich schliesse nicht aus, dass auch mal Kokainversuche kommen.» Ein Rundumschlag sei jedoch der falsche Weg. «Der Bundesrat will schrittweise vorgehen, evidenzbasiert. Wir müssen Chancen und Risiken identifizieren, die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit anschauen. Am Ende geht es um die Frage: Wie finden wir eine Regelung, die der Gesellschaft möglichst wenig Kosten aufbürdet?»
Sarah Schmalz