Drogenpolitik: Zertifiziertes Kokain für alle!
Neuste Zahlen zeigen: Nirgendwo in Europa wird so viel Kokain konsumiert wie in der Schweiz. Die Verbotspolitik hat keine Zukunft und nützt nur der Drogenmafia. Dabei gibt es jetzt schon sauberes Koks aus Herisau.
Hin und wieder kokse ich. Ich bin nicht abhängig. Amen.
Als ich sechzehn war, haben wir gekifft. Oder Pillen geschluckt. Es waren die Neunziger.
Die Street Parade wurde zum grossen Aushängeschild Zürichs, und die Stadt richtete Stellen ein, wo man heute seine Drogen testen lassen kann. Wenn an der Street Parade schon Zehntausende Leute auf illegalisierten Pillen tanzen, dann sollen sie doch zumindest wissen, was sie schlucken.
Ein vernünftiger Ansatz. Aber eben auch nur der halbe Weg, wie es die Entkriminalisierung des Drogenkonsums ist: Die Drogenmafia verdient trotzdem. Denn was konsumiert wird, muss auch irgendwo verkauft werden.
Solange die Politik nicht bereit ist, darüber nachzudenken, wie der kollektive Rausch in einer Gesellschaft, in der sich Woche für Woche Hunderttausende Menschen mit illegalisierten Substanzen eine gute Zeit bescheren, so organisiert werden könnte, dass einerseits die Leute keinen dreckigen Stoff konsumieren und andererseits und vor allem nicht Drogenkartelle an jedem verkauften Gramm verdienen, stehen wir auf Feld null.
Noch nie so billig
Zahlen, die Anfang März publik wurden, zeigen: Nirgendwo in Europa wird so viel Kokain konsumiert wie in der Schweiz. Zürich, Genf, Basel, Bern, St. Gallen – sie alle landen im europäischen Vergleich in den Top Ten.
In der Kleinstadt St. Gallen zum Beispiel wird mit 300 Gramm auf 75 000 EinwohnerInnen pro Tag pro Nase mehr Kokain konsumiert als in den Partymetropolen Berlin oder Amsterdam. Zürich ist in Sachen Kokainkonsum Vizeeuropameister. Nur in Barcelona wird noch mehr gekokst.
Der Trend ist eindeutig: Seit Jahren steigen die Konsumzahlen überall in Europa an. Eine Wende ist nicht in Sicht. Erklärungen dafür gibt es. Zumindest, was die Schweiz betrifft.
Wir haben sie geliefert in unserem «Kokain-Report» (siehe WOZ Nr. 8/2018 ) von Ende Februar, der sich mit dem Konsum in der Stadt Zürich befasste (1,7 Kilo Kokain pro Tag): Heute könne sich jeder Kokain leisten, der halbwegs ein Einkommen habe, sagte Boris Quednow, Kokainforscher der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. In den achtziger Jahren kostete ein Gramm über 300 Franken, heute kostet es einen Hunderter. «Hohe Qualität, günstiger Preis, Schweizer Kaufkraft», sagte Quednow. «Mit Letzterer kann man sich mehr Kokain leisten als in Frankreich, Österreich oder Italien. Das ist eine der Erklärungen dafür, warum Kokain in Zürich in den letzten zwanzig Jahren zu einer Volksdroge geworden ist.»
Anders gesagt: Hundert Jahre nachdem in der Schweiz Kokain verboten wurde, wird in der Schweiz so viel Kokain konsumiert wie noch nie. Und noch nie war der Stoff so billig, noch nie die Qualität so gut. Was nun? Die Politik geht natürlich in Deckung.
Vor 25 Jahren hat Bundesrätin Ruth Dreifuss gegen massiven Widerstand der USA, der Uno und der Weltgesundheitsorganisation die kontrollierte Heroinabgabe durchgesetzt. Ein Erfolgsmodell. Und es soll daran erinnert werden, dass uns nicht die Kokapflanze die Kartelle und den Drogenkrieg beschert haben, sondern der Westen: Die Deutschen haben das Kokain 1860 erfunden, die westlichen Industrienationen, darunter auch die Schweiz, haben es dann produziert, aggressiv vermarktet und schliesslich mit rassistischen und eugenischen Argumenten verboten.
Wie beim Alkohol explodierte darauf der Konsum, und die Mafia übernahm auch dieses Geschäft. Weil aber beim Alkohol die Schiessereien nicht irgendwo im Ausland, sondern auf den Strassen Chicagos stattfanden, lenkte die Politik ein. Nicht beim Cannabis, nicht beim Kokain.
Opium wurde in den USA verboten, weil «der Chinese» im Rausch weisse Frauen vergewaltige; Kokain, weil «der Neger» auf Kokain kaum zu töten sei und weisse Frauen vergewaltige; und Cannabis, weil «der Mexikaner» im Cannabisrausch – man ahnt es – weisse Frauen vergewaltige. Das war der Verbotsdiskurs in den 1920er Jahren. Mit Medizin und Fakten hatte das nichts zu tun.
Auch in der Schweiz nicht: Damals lagen in den Kliniken vornehmlich AlkoholikerInnen, trotzdem wurde Kokain auf Druck der USA «ein kompaktes Horrorimage» verpasst, wie es der Historiker Jakob Tanner sagt. Weil es hier keine Afroamerikaner, Chinesen und Mexikaner gab, die mit der Angst vor dem Rausch assoziiert werden konnten, schob man es auf Homosexuelle und erklärte Kokain zur ansteckenden Krankheit, deren Konsum zu Homosexualität führe und letztlich zum Niedergang des Landes. Diese Stigmatisierungen haben sich eingebrannt.
Aufklärung statt Lobpreisung
Als vergangene Woche die St. Galler Lokalmedien den Rekordkonsum in ihrer Stadt aufgriffen, kommentierte mein sehr geschätzter alter Freund Etrit Hasler, SP-Kantonsrat und WOZ-Kolumnist, auf Facebook: «St. Gallen ist DIE Kokserstadt hinter Zürich und ‹Fachleute suchen nach Erklärungen›? Nein, tun sie offensichtlich nicht, wenn im ganzen Artikel kein einziges Mal die HSG oder die Raiffeisenbank erwähnt werden (…)»
Klar: Der Linke ist anständig und trinkt Schnaps, und in den Banken und an der HSG koksen sie pausenlos! Mit der Realität hat das nichts zu tun: «Auch in jedem Alternativlokal koksen sie sich heute die Birne voll», sagte uns ein Strassendealer während unserer Recherchen zum «Kokain-Report». Und Marcus Herdener, Leiter der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen und stellvertretender Klinikdirektor des Burghölzli, betonte, wie wichtig es sei, dass man beim Thema Drogen nicht in Stereotypen denkt: «So verschieden die Menschen ohne Substanzprobleme sind, so verschieden sind die Menschen mit Substanzproblemen.» Besserverdienende würden unter den KokainkonsumentInnen keinen Schwerpunkt bilden, der Stoff werde in allen sozialen Schichten konsumiert. Wenn es überhaupt eine Risikogruppe gebe, dann sei dies die Gastroszene.
Aber jetzt sind wir schon wieder bei der Problematisierung des Konsums gelandet. Ein falscher Ansatz, wie jeder Suchtpsychiater sagt, mit dem man länger diskutiert, etwa Herdener: «Die grosse Mehrheit konsumiert ohne Probleme. Das ist beim Alkohol so, das ist beim Kokain so.» Deshalb, sagt Thilo Beck, Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin Arud in Zürich, müsse man den Fokus dringend auf den Normalkonsum richten, denn hier stehle sich der Staat aus der Verantwortung: Bei Nahrungsmitteln sorge er dafür, dass nichts verkauft werde, was giftig sei, «doch im Bereich der Substanzen versagt er völlig. Durch die Verbotspolitik lässt er es zu, dass sich die Leute auf dem Schwarzmarkt versorgen und sich Dreck durch die Nase ziehen. Der Staat wäre verpflichtet, eine Alternative zur Verfügung zu stellen und die Bevölkerung zu schützen.»
Toni Berthel, der vom Bundesrat eingesetzte Direktor der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen, sagt, für Suchtkranke habe man in der Schweiz gegen heftigsten internationalen Widerstand erfolgreich das Viersäulenmodell eingeführt, für alle anderen aber gebe es keine Lösung – «für alle Mitglieder unserer Gesellschaft, die psychoaktive Substanzen zur Erholung konsumieren». Das heutige Gesetz bestrafe diese Form von Konsum. Dabei, so Berthel: «Sind Substanzen vorhanden, werden sie konsumiert. Sind sie nicht vorhanden, werden sie organisiert und dann konsumiert. Also stellt sich doch die Frage: Wie organisieren wir den Rausch?»
Die Suchtpsychiater meinen damit nicht, den aggressiven Schwarzmarkt, der keinen Jugendschutz kennt, einfach ins Gegenteil zu verkehren und Kokain oder Cannabis dem Markt zu überlassen, der sie mit allen Tricks der Werbeindustrie vermarktet – was letztlich in den USA zur aktuellen Opioidkrise geführt hat. Sie reden davon, das Leid, das das Verbot verursacht, auf allen Ebenen zu senken. Auch in den Produktionsländern: kontrollierter Anbau, Produktion, Handel und Konsum.
Beim Konsum würde das den Verkauf in Apotheken bedeuten, wo die Stoffe nicht als Wundermittel angepriesen würden, sondern wo auf die Risiken des Substanzkonsums hingewiesen würde. Prävention und Aufklärung statt Lobpreisung. Die Leute wüssten, was sie konsumieren, es würde ein Jugendschutz greifen – und die Stoffe wären dem äusserst aggressiven Markt entzogen, dem anders nicht beizukommen sein wird.
Man darf hoffen, dass sich angesichts der explodierenden Konsumzahlen der für unsere Gesundheit verantwortliche SP-Bundesrat Alain Berset mal mit seinem obersten Suchtfachmann Toni Berthel zusammensetzt. Ein alter Weggefährte Berthels hat sich längst für eine Legalisierung von Kokain ausgesprochen: der erfahrene Suchtarzt Ignazio Cassis, der heutige Aussenminister.
Gewiss: Der Widerstand wäre enorm. Nicht nur, weil die Drogenmafia kein Interesse daran hat, ihre Milliardengrundlage zu verlieren; sondern auch weil die Unterscheidung zwischen guten Substanzen (dem Nervengift Alkohol) und allen anderen bösen Substanzen tief drin sitzt – obwohl jeder Arzt bestätigt, dass die Unterscheidung aus medizinischer Sicht keinen Sinn ergibt.
Und was ist das eigentlich für ein Journalismus? Da kriegt das «St. Galler Tagblatt» die Meldung rein, dass in der eigenen Kleinstadt täglich 300 Gramm Kokain geschnupft werden, und alles, was dem Blatt dazu einfällt, ist ein Artikel mit folgendem Eröffnungssatz: «Es ist eine traurige Statistik (…).» Und dann sagt ein Sozialarbeiter irgendwas, und ein Polizist sagt auch noch was, und beide können sich nicht erklären, was da in ihrer Stadt los ist, und das war es dann.
Aber was ist mit den vielen Leuten im Raum St. Gallen, die offenbar hin oder wieder oder regelmässig Kokain konsumieren? Sind die einfach Ausdruck einer «Traurigkeit»? Oder müsste man angesichts der dramatischen Konsumzahlen nicht die Frage stellen, ob es vielleicht nicht doch andere Lösungen gibt? Wege heraus aus dem versteckten Konsum von grossmehrheitlich mit dem gesundheitsgefährdenden Entwurmungsmittel Levamisol gestrecktem Kokain, an dem die Drogenmafia verdient? Oder sind diese unzähligen KonsumentInnen einfach moralischer Sondermüll?
Von der Uno zertifiziert
Jetzt schulde ich der grünen Zürcher Politikerin Elena Marti noch eine Antwort. Sie hatte versprochen, sich für eine Legalisierung von Kokain einzusetzen, wenn ich den Beweis liefern würde, dass Kokain sauber hergestellt werden könne, also ohne dass Kartelle involviert seien.
Dieser Beweis existiert in Herisau: beim Pharmaunternehmen Hänseler AG. Die Firma importiert jedes Jahr mehrere Kilogramm Kokain zu medizinischen Zwecken. «Wir sind an die Schweigepflicht gebunden», sagt Geschäftsführer Alexander Klöti. «Wir können nicht sagen, wo der Stoff produziert wird» (vermutlich in Britannien, erfuhr die WOZ). «Aber um die nötigen staatlichen Export- und Importbewilligungen zu kriegen», sagt Klöti, «muss jeder Schritt dokumentiert sein, vom legalen Anbau der Pflanze bis zur Produktion des Kokains. Es gibt keine Lücke.»
Etwas mehr Details gibt es bei Andreas Ryser in Thun. Der ehemalige Mitarbeiter des Bundesamts für Gesundheit ist mit seiner Firma Diamo Narcotics GmbH für die Versorgung der Schweizer Heroinabgabe verantwortlich. Der Rohstoff für das Schweizer Heroin stammt laut Ryser aus Tasmanien. Dort, auf riesigen, von der Uno zertifizierten Feldern, wachse der Mohn, der vor Ort, in einem reinen Agrarprozess, geerntet und gepresst und dann nach Britannien verschickt werde. Dort, in einem chemischen Prozess, wird das Heroin hergestellt, das dann nach Thun verfrachtet wird, wo Ryser die Qualität kontrolliert. «Das Bundesamt für Gesundheit setzt einen Reinheitsgehalt von 98 Prozent voraus», sagt der ehemalige Apotheker. «Der Stoff ist auf allen Ebenen sauber. Es gibt keine Graubereiche.»