Drogenpolitik: «Die Abgabe von Kokain wäre nicht die Lösung, aber ein erster Schritt»

Nr. 40 –

Der Psychiater und Suchtmediziner Thilo Beck fordert eine Legalisierung von Drogen wie Kokain. Für Cracksüchtige in den Schweizer Städten brauche es zudem dringend Notfallmassnahmen.

geschützter Raum für den Konsum von Drogen in Genf
In Genf gibt es einen geschützten Raum für den Konsum von Drogen. Allerdings reiche, so Thilo Beck, die Kapazität nicht aus: «Da liegt der Ursprung der aktuellen Si­tua­tion.»

WOZ: Thilo Beck, überall wird derzeit über wachsende offene Drogenszenen in Schweizer Städten berichtet. Manche reden schon von einer «Crackpandemie». Wie schätzen Sie die Lage ein?

Thilo Beck: Man muss stark differenzieren, die Situation ist je nach Stadt sehr unterschiedlich. In Genf hat sich die Lage in den letzten Monaten besonders zugespitzt, weil die Infrastruktur für Crack Konsumierende mangelhaft ist. Es gibt zu wenige genügend ausgestattete Konsumräume für diese Gruppe. Da liegt der Ursprung der aktuellen Situation mit vielen von Crack abhängigen Konsument:innen im öffentlichen Raum, die wie etwa im Pâquis-Quartier beim Hauptbahnhof sichtbar gestresst und in einem schlechten Zustand sind.

In vielen Berichten konnte man lesen, dass Dealer aus Frankreich das Problem seien, die das Crack neuerdings fertig vorbereitet als sogenannte Steine verkauften.

Ja, aber diese Entwicklung ist eben auf die fehlenden Kapazitäten der Konsumräume zurückzuführen. Crack ist rauchbares Kokain, das dafür mit Backpulver oder Ammoniak aufgekocht wird. Die meisten Konsument:innen bevorzugen es eigentlich, die Droge selber vorzubereiten. Doch wenn dafür die Rückzugsorte fehlen, greifen sie eher auf solche Steine zurück, wenn sie vom Schwarzmarkt angeboten werden. Crack führt sehr schnell zu einem sehr kurzen High. Wenn die Vorbereitungszeit wegfällt, steigert sich der Konsum zusätzlich. Und wenn sich erst einmal eine offene Szene gebildet hat, kann diese jenseits der klassischen Konsument:innen, die meist der Post-Platzspitz-Szene zuzuordnen sind, auch ein Anziehungspunkt für Einsteiger:innen werden.

Der Suchtmediziner

Thilo Beck (61) ist Ko-Chefarzt Psychiatrie der Arud, des Zentrums für Suchtmedizin in Zürich, und im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin. Er ist Autor und Mitautor zahlreicher Studien zum Thema.

 

Thilo Beck
Thilo Beck

Wie sehr aber ist der Konsum von Crack schweizweit angestiegen?

In Städten wie Zürich oder Chur ist Crack schon seit über zwanzig Jahren ein Thema. In Chur, wo sich mangels Konsumräumen von Anfang an eine offene Szene im Stadtgarten bildete, hat sich die Situation in den letzten Jahren deutlich zugespitzt. In Zürich hat die Zahl der statistisch erfassten Konsumationen in den Konsumräumen ab 2021 merklich zugenommen und ist seither um insgesamt dreissig Prozent angestiegen. Wir sind aber sehr weit weg von einer Crackpandemie, da es sich um eine begrenzte Gruppe von Konsument:innen handelt, die in der Struktur der Konsumräume gut aufgefangen werden konnte. Was in Zürich zur offenen Szene rund um die Bäckeranlage geführt hat, ist die Schliessung des nahe gelegenen Konsumraums auf dem Kasernenareal. Der Stadtrat hat nun aber schnell reagiert und auf Mitte November die Eröffnung einer provisorischen Anlaufstelle im Quartier angekündigt. Auch in Chur soll nun nach jahrelangen Verhandlungen endlich ein Konsumraum ermöglicht werden.

Die neue Sichtbarkeit der Süchtigen hat die Debatte um die Schweizer Drogenpolitik neu entfacht. Sie persönlich fordern, alle Suchtmittel zu legalisieren. Warum diese radikale Haltung?

Ich bin klar der Meinung, dass ein erwachsener Mensch die Freiheit haben sollte, zu entscheiden, wann er welche Substanzen konsumiert. Die grosse Mehrheit tut das ja auch, ohne abhängig zu werden. Das muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen. Was man auch wissen muss: Es gibt zwar Rankings zu Suchtpotenzial und Schädlichkeit von psychoaktiven Substanzen. Die Unterschiede zwischen den Substanzen sind dabei aber weit kleiner, als man meinen könnte: Abhängig werden jeweils zwischen fünfzehn und dreissig Prozent der Konsumierenden. Alkohol gilt als die für unsere Gesellschaft schädlichste Substanz, Tabak als die Substanz mit dem grössten Suchtpotenzial. Die derzeitige Unterteilung in legale und illegale Suchtmittel kann mit diesen Erkenntnissen nicht gerechtfertigt werden.

Um beim Kokain, der nach Cannabis derzeit am häufigsten konsumierten illegalen Droge, zu bleiben: Etwa fünfzehn bis zwanzig Prozent der Konsumierenden werden davon abhängig. Muss man da nicht die Verfügbarkeit möglichst klein halten?

Ich möchte zuerst einmal bezweifeln, dass das Verbot eine Hürde ist. Interessierte können sich in der Schweiz jederzeit und unkompliziert übers Internet oder telefonisch Kokain besorgen, mit zuverlässigem Lieferdienst. Zusätzlich üben Verbote eben auch einen Reiz aus. Leider fehlen uns aufgrund der Kriminalisierung und ungenügender Erhebungen verlässliche Zahlen dazu, wie viel Kokain insgesamt konsumiert wird. Noch wichtiger ist aber ohnehin zu verstehen, dass nicht allein die Verfügbarkeit oder die Anzahl Konsument:innen entscheidend dafür ist, wie viele Menschen eine Abhängigkeit entwickeln. Die Ursachen für problematischen Konsum und Drogenepidemien sind komplex und oft auch gesellschaftlicher Natur. Das hat das sogenannte Rat-Park-Experiment eindrücklich aufgezeigt.

Ein Experiment mit Ratten?

Ja. Forscher haben Ratten in engen Versuchskäfigen verschiedene Flüssigkeitsspender bereitgestellt, die einen mit gelöstem Kokain oder Heroin gefüllt, die anderen mit reinem Wasser. Das Experiment brachte erst einmal ein ganz klares Ergebnis: Die Ratten wurden in kürzester Zeit abhängig, ein Grossteil interessierte sich rasch nur noch für die Suchtmittel und liess das Wasser links liegen. Doch dann fiel dem Team auf, dass die Ergebnisse verfälscht sein könnten, weil das Experiment an sozial deprivierten Laborratten durchgeführt wurde. Ratten sind ja eigentlich hochsoziale Wesen. Die Forscher:innen haben dann ein zweites Experiment durchgeführt mit zufriedenen Ratten, die in grossen Käfigen in der Gruppe lebten und adäquat beschäftigt waren.

Mit welchem Resultat?

Von dieser Gruppe entschied sich kaum ein Tier für die Drogen. Das lässt sich auf die Menschen übertragen. Ein grosser Teil bringt viel Potenzial mit, adäquat mit Suchtmitteln umzugehen. Sie trinken sich nicht besinnungslos, koksen vielleicht einmal im Monat. Aber wer sozial und ökonomisch depriviert oder psychisch belastet ist, ist weit anfälliger für eine Suchterkrankung. Das zeigt sich aktuell sehr deutlich in den USA, wo die Opioidkrise vor allem den von der Deindustrialisierung hart getroffenen Rust Belt trifft. In der Drogenpolitik gehört also die Frage ins Zentrum, was Menschen brauchen, um möglichst nicht abhängig zu werden.

Wovon ich auch überzeugt bin: Ein problematischer Substanzgebrauch wird nicht bekämpft, indem wir eine Droge in den Untergrund verbannen. Viel besser ist es, sie in die Gesellschaft zu integrieren und den Umgang damit offen auszuhandeln. Menschen, die eine Abhängigkeit entwickelt haben, müssen mit guten Therapieangeboten unterstützt werden.

Was für ein Regulierungsmodell schwebt Ihnen beim Kokain vor? Soll die Droge irgendwann im Supermarkt verkauft werden können?

Verschiedene Städte wie etwa Basel, Genf, Lausanne oder Bern führen derzeit Versuche mit dem Verkauf von legalem Cannabis durch. Die Studien werden wichtige Anhaltspunkte für die Ausgestaltung von Regulierungsmodellen liefern, über das Cannabis hinaus. Die Eidgenössische Kommission für Fragen zu Sucht und Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (EKSN) des Bundesrats empfiehlt für alle Substanzen, die bisherige Prohibitionspolitik zu verlassen und stattdessen dem Risikopotenzial der jeweiligen Substanz angepasste Regulierungsmodelle umzusetzen.

Wie aber könnte so ein Modell für Kokain konkret aussehen?

Ob zum Beispiel Apotheken Cannabis, Kokain oder andere Substanzen verkaufen würden oder Spezialgeschäfte mit Bewilligung, lässt sich noch nicht beantworten. Grundsätzlich wollen wir Suchtexpert:innen nicht, dass Konsum und Verkauf aus ökonomischen Interessen gepusht werden. Wie verheerend es ist, wenn man den Vertrieb von Suchtmitteln völlig unreguliert dem Markt überlässt, zeigte sich in den fünfziger, sechziger Jahren beim Tabak. Die Tabakindustrie konnte damals ihre Produkte hemmungslos bewerben und spannte sogar Ärzt:innen ein, die behaupteten, Rauchen sei gesund. Ganz zentral wird der absolute Verzicht auf Werbung und die vernünftige Festlegung des Verkaufspreises sein: nicht zu tief, damit kein Konsumanreiz geschaffen wird, aber auch nicht zu hoch, weil damit der Schwarzmarkt wieder Fuss fassen könnte.

Um den Schwarzmarkt wirkungsvoll zu bekämpfen, müssten neben Handel und Konsum auch Anbau und Produktion legalisiert werden. Nun ist das illegale Geschäft aber global organisiert, vom Anbau in Kolumbien oder Bolivien bis zu den Kleindealer:innen in der Schweiz. Welchen Handlungsspielraum hat die Schweiz überhaupt bei der Legalisierungsfrage?

Sicher, die Entkriminalisierung von Anbau, Handel und Konsum müsste auf internationaler Ebene angegangen werden. Zwar beginnt sich die internationale Prohibitionspolitik aufzuweichen, doch dieser Prozess ist sehr langsam. Es gibt innerhalb der Vereinten Nationen sehr restriktive Länder, die Fortschritte noch verhindern, allen voran China und Russland. Dass Cannabis inzwischen in diversen Mitgliedsländern der Uno legal ist, widerspricht den internationalen Abkommen, die unter der Schirmherrschaft des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung abgeschlossen wurden. Diese Abkommen sind leider immer noch sehr der Doktrin des «Krieges gegen Drogen» verpflichtet und müssten dringend angepasst werden.

Was also kann die Schweiz tun?

Aktuell arbeitet eine Subkommission der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit am Gesetzesentwurf für eine Cannabisregulierung. Darüber hinaus müssen wir uns ganz grundsätzlich fragen, wie eine kohärente Regulierung von allen bisher illegalen Suchtmitteln in Zukunft aussehen könnte. Für Kokain zum Beispiel müsste geprüft werden, wie die Substanz aus dem Ausland importiert werden könnte. Derzeit werden bereits Hunderte Kilo pharmazeutisches Kokain pro Jahr legal in Peru produziert und über die USA vor allem nach England exportiert. Neben längerfristigen Lösungsansätzen für die grosse Mehrheit der unproblematischen Konsument:innen braucht es dringend mehr Möglichkeiten zur akuten Nothilfe für die Menschen, die derzeit in der offenen Crackszene kaputtgehen.

Wie zum Beispiel?

Neben mobilen interdisziplinären Unterstützungsangeboten vor Ort und der Sicherstellung geeigneter Konsumräume wäre die kontrollierte Abgabe von pharmazeutischem, nicht mit schädlichen oder gefährlichen Substanzen gestrecktem Kokain in den Konsumräumen zu prüfen – als sichere und geschützte Alternative für Schwerstbetroffene. Es bräuchte jetzt wissenschaftliche Studien, die zeigen, ob ein derartiges Vorgehen machbar ist und ob es sich bewährt.

Sie haben das kurze High beim Crackkonsum geschildert. Macht die Tatsache, dass Süchtige so rasch Nachschub brauchen, eine kontrollierte Abgabe nicht unpraktikabel?

Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Angesichts der oft fehlenden Wirkungssättigung wäre sicher nur eine kontrollierte Abgabe möglich. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Betroffenen zusätzlich mit einem länger wirksamen Amphetaminpräparat zu behandeln. Hierzu gibt es bereits Studien mit vielversprechenden Ergebnissen. Die Abgabe von Kokain wäre sicher nicht die Lösung des Problems, könnte für Schwerstbetroffene aber ein erster Schritt zurück in ein geschütztes und betreutes Setting sein.

Sie wollten nicht von einer «Crackpandemie» sprechen. Besorgniserregend ist der Anstieg der Süchtigen dennoch. Wo sehen Sie die gesellschaftlichen Ursachen dafür?

Wie gesagt: Soweit ich das beurteilen kann, haben wir es zurzeit in der Schweiz in allererster Linie mit einer vermehrten Sichtbarkeit von Personen mit einem problematischen Konsum zu tun. Diese dramatische Situation hat sich entwickelt, weil die Betreuungs- und Behandlungsstrukturen in einzelnen Städten dem Bedarf dieser Menschen nicht gerecht werden und sich ihre gesundheitliche und soziale Situation in der offenen Szene unter den Augen der Öffentlichkeit beängstigend schnell verschlechtert.

Die beobachtete Zunahme des Crackkonsums ist auf regional sehr verschiedene Faktoren zurückzuführen, zu deren Erklärung wir mehr Forschungserkenntnisse brauchen. Ein übergreifender Treiber für eine Zunahme des Konsums ist sicherlich die Überproduktion der Kartelle, die mit aller Kraft versuchen, neue Märkte zu erschliessen. Die Prohibition hat versagt. Derzeit werden Unmengen von Kokain auf den europäischen Markt gedrückt. Und vor allem die am schwersten betroffenen Konsument:innen sind den südamerikanischen Kartellen und ihren Dealern ausgeliefert. Wenn wir die menschenverachtende Willkür des Schwarzmarkts brechen wollen, müssen wir uns früher oder später mit der Regulierung befassen.