Wahlen in Armenien: «Wie wollt ihr gegen die kämpfen?»

Nr. 24 –

In Armenien stehen nach der Niederlage im Krieg um die Region Bergkarabach vorgezogene Parlamentswahlen an. Progressive Kräfte haben einen schweren Stand gegen die Macht der Oligarchen. Auf Wahlkampftour in der Hauptstadt Eriwan.

«Wir sind die Neuen. Geben Sie uns eine Chance»: Mikayel Nahapetjan und Yana Mantasheva werben für die kleine Partei «Bürgerentscheid».

«Wir haben uns weder dem ehemaligen noch dem aktuell regierenden politischen Lager angeschlossen, die Hass gegeneinander propagieren. Wir sind die Neuen. Geben Sie uns eine Chance!» Diese Sätze wiederholen Yana Mantasheva und Mikayel Nahapetjan etwa hundertmal am Tag. Die beiden befinden sich zurzeit für die junge Partei «Bürgerentscheid» im Wahlkampfendspurt und werben an Haustüren für Stimmen.

Grund für die vorgezogenen Wahlen in Armenien ist die tiefe innenpolitische Krise, in der das südkaukasische Land seit der Niederlage im Krieg gegen Aserbaidschan um die Region Bergkarabach steckt. Im November 2020 hat Premierminister Nikol Paschinjan einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen zugestimmt. Die ehemalige Sowjetrepublik verlor dadurch weite Gebiete, über die es zuvor etwa 27 Jahre lang die Kontrolle gehabt hatte. Paschinjan gilt seither vielen ArmenierInnen als «Verräter», sie geben ihm die Schuld an der schmachvollen Niederlage und protestierten massenhaft gegen ihn. Nun kämpfen nicht weniger als 26 Parteien und Bündnisse für die «Sicherheit Armeniens», wie sie fast alle betonen, und wollen an die Macht kommen.

Stromausfall im Plattenbau

Diesen Plan verfolgen auch Yana Mantasheva und Mikayel Nahapetjan. Ihre Schlagworte heissen soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität. Mantasheva ist 30, Nahapetjan 24 Jahre alt. Beide tragen Jeans und weisse T-Shirts. Sie haben auf ihrer Wahlkampftour Flyer dabei, auf grünem Hintergrund prangen die Buchstaben «KO» – eine Abkürzung der Partei «Bürgerentscheid».

«Wir sind sozialdemokratisch», erklärt Mantasheva, die Sprachwissenschaft und Psychologie studiert und dann einen Master im Fach Europäische Studien gemacht hat. Doch die alleinerziehende Mutter ist vor allem eine Protestaktivistin. Sie kämpft für den Schutz von Parks in den Städten, demonstriert gegen Bergbauprojekte und für Umweltschutz. Nun will sie aus dem Aktivismus heraus in die parlamentarische Politik.

Nahapetjan wird Ende Jahr 25 Jahre alt, erst ab diesem Alter darf man offiziell für eine Partei kandidieren, er steht deshalb noch nicht auf der Liste seiner Partei. Er studierte Geografie und Geologie und strebt nun in die grosse Politik. «Je jünger ich anfange, desto mehr Erfahrung sammle ich schon früh», sagt er. Er ist bereits jetzt ein überzeugender Redner und so zu einem prominenten Gesicht seiner Partei geworden.

Die Partei «Bürgerentscheid» ist noch sehr jung, sie wurde wenige Monate nach der Samtenen Revolution im Frühjahr 2018 gegründet – überwiegend von jungen AktivistInnen. Im Dezember desselben Jahres nahm die Partei zum ersten Mal an Parlamentswahlen teil und erreichte lediglich 0,68 Prozent der Stimmen. Bei den nun anstehenden Wahlen will sie mindesten fünf Prozent erreichen, was für den Einzug ins Parlament notwendig ist.

Eine grosse Brücke führt in den Stadtbezirk Dawtaschen am Rand der Hauptstadt Eriwan. Stadtlärm und Hektik sind weit weg und es wächst hier mehr Grün. An der Mündung einer Schlucht wurden hier Luxusgebäude errichtet – zu denen die beiden WahlkämpferInnen keinen Zutritt haben. Im Herzen des Viertels stehen überwiegend Plattenbauten aus der Sowjetzeit.

Es ist Spätnachmittag. Im ganzen Bezirk ist der Strom ausgefallen, also nehmen Mantasheva und Nahapetjan die Treppe bis in den neunten Stock. Vor einer Wohnungstür liegt ein schmutziges braunes Badetuch, das als Fussabtreter dient. Nahapetjan klopft an. Eine Frau öffnet, er gibt ihr einen Flyer, Mantasheva lächelt freundlich. Doch die Frau ist wütend, sofort greift sie das Papierstück und zerreisst es in viele kleine Stücke. «Verschwindet alle von hier», schreit die ehemalige Lehrerin laut. «Schämt euch alle, ihr Lügner! Ich gebe meine Stimme niemandem.» Ihre Empörung können Mantasheva und Nahapetjan durchaus verstehen. Regelmässig bleiben Hunderte Haushalte tagsüber ohne Strom in Eriwan. «Was hätte ich machen sollen, wenn ich unter der Dusche oder im Aufzug gewesen wäre?», fragt die Siebzigjährige. Als die Glühbirne in ihrer Wohnung just in dem Moment wieder strahlt, seufzt sie vor Erleichterung und entschuldigt sich für ihren Ausbruch. Nahapetjan gibt ihr einen neuen Flyer.

Als die beiden zu den Nachbarn gegenüber gehen wollen, ruft die Frau ihnen nach: «Spart eure Zeit! Die Leute da haben schon lange das Land verlassen und leben in Moskau.» Damit sind sie keine Ausnahme. Seit der Unabhängigkeit Armeniens 1991 sind etwa 1,12 Millionen Menschen ausgewandert, die meisten davon nach Russland, wo vor allem die Männer als Saisonarbeiter tätig sind.

Nahapetjan klopft an die nächste Tür. Über dieser ist an der Wand ein Hufeisen befestigt, das der Familie Glück bringen soll. Ein Mann öffnet die Tür. Er steht in Unterhose und Unterhemd vor den WahlkämpferInnen. Er mag nicht über Politik reden, er habe Wichtigeres zu tun.

Ein Angebot an die Oligarchen

Mantasheva und Nahapetjan stehen nun vor einer metallisch glänzenden Haustür, sie ist verziert mit Ornamenten, gesichert mit einem Doppelschloss. Aus der Ecke filmt eine Überwachungskamera. «Das sind nicht unsere Wähler und Wählerinnen», sagt Mantasheva. «Wer eine solche Tür hat, dem ist soziale Gerechtigkeit wohl fremd.» Eine Stimme von der anderen Seite der Tür schickt die beiden weg. Bis in den späten Abend tingeln sie weiter von Tür zu Tür und verteilen ihre Flyer. Ein älterer Mann öffnet seine Tür erst einmal nur halb. Von der Partei «Bürgerentscheid» habe er noch nie gehört. «Das Fernsehen zeigt euch nicht.» Kein Wunder. Die staatlichen Kanäle machen hauptsächlich Propaganda für den amtierenden Premierminister Nikol Paschinjan. Sie zeigen, wie in einem Dorf zu seinen Füssen ein Lamm geschlachtet wird oder wie Frauen seine Hände küssen und «Jesus Christus» rufen.

Paschinjans Hauptgegner finanzieren ihre eigenen Privatsender. Etwa Robert Kotscharjan, der schon einmal Staatspräsident war. Als Paschinjan 2018 an die Macht kam, liess er zuallererst Kotscharjan festnehmen. Zehn Jahre zuvor war es genau umgekehrt gewesen. Nun schwören sich die beiden im Wahlkampf gegenseitig Rache. Armeniens Oligarchen unterstützen beide, schliesslich geht es ja auch ums Geschäft.

«Kinder, wie wollt ihr denn gegen einen mächtigen Oligarchen kämpfen?», fragt der Mann und lacht. «Derzeit gibt es in Armenien niemanden, der die Oligarchen vor Gericht bringen kann. Und ihr schafft das erst recht nicht.» Die Strategie von «Bürgerentscheid» ist aber ohnehin eine andere. «Wir bieten einen Friedensvertrag an», erklärt Nahapetjan: Alle Oligarchen treten zurück, sowohl aus der Regierung wie auch aus dem Parlament. Im Gegenzug würde ihnen die Partei im Fall einer Machtbeteiligung ihre Geschäfte nicht wegnehmen und ihnen eine Steueramnestie zugestehen.

Der Mann lacht noch lauter, sodass die vier Zähne in seinem Mund gut zu sehen sind. Auch seine Haustür hat er jetzt weit geöffnet. «Egal wer in Eriwan an die Macht kommt, Armenien wird von nur einer Person regiert. Und die heisst Wladimir Putin», sagt er und wischt sich den Schweiss von der Stirn. Der Kreml opfere Armenien, um die Milliardengeschäfte mit Gas und Öl mit der Türkei und Aserbaidschan nicht zu gefährden.

Viele neu gegründete kleine Parteien wollen die politische Ausrichtung Armeniens ändern. Sie wollen das Land aus der russischen Einflusssphäre herauslösen und propagieren einen prowestlichen Kurs. Es ist das Gegenteil von dem, was Expräsident Robert Kotscharjan im Sinn hat, zu dessen Bündnis auch nationalistische Kräfte gehören. Er versucht als Freund Putins zu punkten und verspricht eine bessere Zukunft durch stärkere Anlehnung an Russland. Soziale Reformen, wie sie «Bürgerentscheid» propagiert, eine obligatorische Krankenversicherung und kostenlose Bildung für alle interessieren heute kaum jemanden. Das Duell zwischen Paschinjan und Kotscharjan dominiert den Wahlkampf total. Daran ändert auch der grosse persönliche Einsatz von Mantasheva und Nahapetjan nichts.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen