Durch den Monat mit Katja Schwaller (Teil 2): Es gibt eine App, mit der man Obdachlose melden kann?

Nr. 27 –

In San Francisco existieren extremer Reichtum und extreme Armut nebeneinander. Die Stadtforscherin Katja Schwaller beobachtet dort das Zusammenwirken von urbaner Entwicklung, sozialer Verdrängung und Techindustrie.

«Die Wohnungslosen werden in San Francisco kriminalisiert und von der Polizei von einem Ort an den anderen gehetzt»: Katja Schwaller.

WOZ: Katja Schwaller, in Ihrem 2019 erschienenen Band «Technopolis» schreiben Sie, die Obdachlosenkrise in San Francisco habe ein «episches Ausmass» erreicht. Hat sich die Lage inzwischen gebessert?
Katja Schwaller: Nein. Die enormen Probleme bestehen schon seit den Achtzigern – und dafür sind zunächst übergeordnete Kräfte verantwortlich: Die Bundesregierung hat seit dieser Zeit den Wohlfahrtsstaat radikal abgebaut und öffentliche Einrichtungen privatisiert. Ausserdem wurden Gewerkschaften zerschlagen, Jobs dadurch immer prekärer. Seither gibt es in San Francisco und der Bay Area eine riesige Wohnungsnot, ohne dass sich diese je entspannt hätte. Hinzu kam noch der Zuzug von Besserverdienenden, die mit Ärmeren um den Wohnraum konkurrieren. Dadurch hat sich die Situation enorm zugespitzt; aktuell beläuft sich die Zahl der Wohnungslosen in San Francisco auf über 8000 bei einer Bevölkerung von nicht einmal 900 000 Menschen, wobei das vermutlich zu tief geschätzt ist.

Für die Wohnungslosen waren Coronapandemie und Lockdown vermutlich besonders katastrophal.
Es war extrem: Geschäfte, Restaurants und Bürogebäude waren geschlossen und teils verbrettert, San Francisco wirkte wie eine Geisterstadt – und trotzdem waren da die vielen Menschen auf der Strasse, die mitten in einer Pandemie irgendwie überleben mussten in ihren selbstgezimmerten Unterkünften oder Zelten. Das wirkte fast apokalyptisch. Aber auch ohne Pandemie hat diese Krise längst solche Dimensionen angenommen, dass die zugespitzten sozialen Zustände nicht mehr zu verbergen sind. Die Wohnungslosen werden zwar verdrängt, kriminalisiert und von der Polizei von einem Ort an den anderen gehetzt. Aber trotzdem lösen sie sich ja nicht einfach in Luft auf: Die Menschen existieren weiter, sie haben weiterhin Bedürfnisse.

Wird das in einer linken Stadt nicht als tagtäglicher Skandal empfunden? Oder hat man sich einfach damit abgefunden?
Mein persönliches Umfeld empfindet das als haarsträubend. Zugleich ist man aber auch ratlos: In den Achtzigern glaubte die Linke noch, dass sich für das Problem bald politische Lösungen finden liessen. Mittlerweile hat die Misere ein solches Ausmass angenommen, dass es schwerfällt, sich auszumalen, wie das konkret bewerkstelligt werden soll. Aber es gibt viele Organisationen, die in diesem Feld gute Arbeit leisten: Die Coalition on Homelessness etwa unterstützt Menschen, wenn deren Zeltlager geräumt wird, macht Kampagnenarbeit und auch direkte Aktionen.

Gerade Besserverdienende sollen ja immer wieder die Polizei rufen, weil sie sich von Wohnungslosen belästigt fühlen. Da kann man gut verstehen, warum der Zuzug dieser Leute Unmut auslöst.
Die Proteste richten sich ja nicht gegen Menschen, die neu in die Stadt ziehen, sondern zielen darauf ab, dass bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden muss. In San Francisco gibt es keinen städtischen Wohnungsbau, man überlässt das grösstenteils dem Markt. Leider werden die Initiativen oft so dargestellt, als ginge es nur darum, etwas zu verhindern. Das stimmt aber nicht, es geht um konkrete Forderungen: etwa, dass es einen besseren MieterInnenschutz geben muss. Trotzdem ist auch der Habitus, den manche Techies an den Tag legen, problematisch.

Zum Beispiel?
Es lassen sich soziale Pathologien beobachten, die durch ständigen Techgebrauch noch verstärkt werden. Wenn du achtzig Stunden die Woche in deinem Tech-Headquarter arbeitest, dann hast du dort alles, was du brauchst: Dort gibt es einen Wäscheservice, das Essen wird zubereitet, und danach gibts gratis eine Massage. In der Branche arbeiten viele junge, weisse Männer, die eine solche Rundumversorgung schon aus ihrem familiären Umfeld und vom College-Campus gewohnt sind. So lernen sie nie, sich mit einem städtischen Umfeld auseinanderzusetzen. Stattdessen regelt das Smartphone alles: Per App kannst du jemanden bestellen, der putzen kommt, das Essen liefert, einkaufen geht, die Wäsche macht.

Techies haben zwar Geld, aber es mangelt an sozialer Kompetenz?
Wer auch beim Kaffeebestellen ständig Kopfhörer trägt und sich kaum noch persönlich mit anderen Menschen auseinandersetzt, der empfindet womöglich auch Wohnungslose bloss als Störung, statt darin strukturell begründetes Elend wahrzunehmen. Und zynischerweise gibt es auch gleich eine App, mit der Beschwerden bequem per Klick bei der Stadt eingereicht werden können.

Es gibt eine App, mit der man Obdachlose melden kann?
Die App ist eigentlich gedacht für Beschwerden wegen Beeinträchtigung der Lebensqualität – sogenannte «quality of life crimes» wie Lärm oder Graffiti. Sie wird allerdings häufig gegen wohnungslose Menschen verwendet. Dieses Beispiel zeigt, wie die Stadt an die Techbranche andockt und versucht, ähnliche Angebote zu schaffen wie die Industrie.

Katja Schwaller studierte Fachübersetzen in Zürich und kritische Stadtforschung in San Francisco, wo sie aktuell an einer Dissertation arbeitet. Derzeit ist sie für einige Wochen zurück in Zürich.