Durch den Monat mit Katja Schwaller (Teil 3): Warum wollen plötzlich alle in die Stadt?

Nr. 28 –

Die in San Francisco lebende Stadtforscherin Katja Schwaller erklärt, wie Techunternehmen von einer kaputten Infrastruktur profitieren – und was man im Kampf gegen Gentrifizierung von Berlin lernen kann.

«Inzwischen gibt es auch Vorstädte, die von People of Color dominiert werden, weil diese sich im Zentrum keine Wohnung mehr leisten können»: Katja Schwaller an der Limmat in Zürich.

WOZ: Katja Schwaller, wie haben Sie die Waldbrände in Kalifornien im vergangenen Jahr erlebt?
Katja Schwaller: Der Rauch war so extrem, dass es an manchen Tagen in San Francisco kaum mehr hell wurde. Diese Brände haben gezeigt, dass die Infrastruktur in den USA nicht nur wahnsinnig marode ist, sondern sogar Menschen umbringt: Die «wildfires» waren nämlich gar nicht so «wild», sondern menschengemacht.

Inwiefern menschengemacht?
Die Brände sind zum Teil durch Missmanagement bei dem Konzern verursacht worden, der für die Strom- und Gasversorgung zuständig ist, was in Kalifornien keine öffentliche Angelegenheit ist. Deswegen arbeiten die Versorger profitorientiert und sparen beim Unterhalt. Einige der Feuer sind dadurch entstanden, dass umstürzende Bäume auf die Stromleitungen fielen und diese auf dem ausgetrockneten Boden Funken schlugen. So führt eine kaputte Infrastruktur – in Kombination mit dem menschengemachten Klimawandel – ganz konkret zu tödlichen Katastrophen.

Immerhin hat US-Präsident Joe Biden ein grosses Investitionsprogramm angekündigt.
Was grundsätzliche Verbesserung angeht, bin ich trotzdem skeptisch. Biden scheint aber zumindest bewusst zu sein, dass die marode Infrastruktur ein Hauptproblem der USA ist. Gerade diese schafft den Markt für Techunternehmen: Nur weil etwa der ÖV so schlecht ist, kann eine Plattform wie Uber derart erfolgreich sein. Gleichzeitig unterminieren diese Konzerne die Infrastruktur weiter.

Die Techindustrie verschlimmbessert soziale Probleme also?
Das ist zentral dafür, wie die Techindustrie funktioniert: Die Konzerne schaffen häufig erst die Bedingungen, die ideal für sie sind, um Profite zu machen. Das veranschaulicht auch Airbnb. Vonseiten dieser Plattform heisst es: Wenn du die Miete nicht mehr zahlen kannst, dann vermietest du eben ein Zimmer unter und verdienst so dazu. Dabei trägt Airbnb selbst zu hohen Mieten bei, weil viele Wohnungen vom Markt genommen werden, um sie an TouristInnen zu vermieten.

Wie lässt sich das Problem lösen?
Es braucht Regulierungen. Es ist aber schwierig, diese durchzusetzen. Airbnb hat bei einer Abstimmung in San Francisco vor einigen Jahren neun Millionen Dollar in den Wahlkampf gepumpt, um Regulierungen zu verhindern – eine enorme Summe für eine Stadt dieser Grösse. Genauso kürzlich Uber bei der sogenannten «Proposition 22»: Bei dieser Abstimmung ging es darum, ob die FahrerInnen als reguläre ArbeitnehmerInnen behandelt werden müssen. Uber drohte, sich aus Kalifornien zurückzuziehen. Wenn aber immer mehr Leute auf Uber-Jobs angewiesen sind, dann entstehen politische Abhängigkeiten. Der Erpressungsversuch ist aufgegangen: Uber hat die Abstimmung gewonnen.

Explodierende Mieten sind vielerorts auch ohne Techindustrie ein Problem. Woran liegt das?
Das hat zum einen mit den Kapitalkreisläufen zu tun: Es wird mehr spekulativ in den Wohnmarkt investiert. Dazu kommt, dass für viele ein urbaner Lebensstil attraktiver geworden ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es in den USA, wo die Entwicklung besonders deutlich zu beobachten war, noch eine regelrechte Flucht in den suburbanen Raum gegeben. Man spricht von einer «white flight», aber ich würde eher sagen, dass es sich um einen «white pull», also die gezielte Abwerbung von Weissen durch die Immobilienindustrie, handelte. Angekurbelt durch staatlich finanzierte Highways und Hypothekarprogramme erschloss diese neue Wohnareale und verkaufte sie gewinnbringend. Und dann war da noch die Konzernflucht: Das Kapital wollte weg von gewerkschaftlich organisierten Zentren.

Wieso hat sich dieser Trend umgekehrt?
Wie gesagt: aus ökonomischen und kulturellen Gründen. Durch die Protestbewegungen in den sechziger Jahren entstanden in den Städten neue Kulturen, die auch für die Kids in den Suburbs attraktiv wurden. Man kann fast von einer Rückeroberung der Städte durch den weissen Mittelstand sprechen. Umgekehrt existieren inzwischen auch Vorstädte, die von People of Color dominiert werden, weil diese sich im Zentrum keine Wohnung mehr leisten können.

Hat die Linke die Gentrifizierungsproblematik zu stark vernachlässigt?
Berlin ist doch ein gutes Beispiel mit der Kampagne «Deutsche Wohnen & Co enteignen» – da passiert ja viel. Dort hat man auch Google in die Flucht geschlagen: Der Konzern hatte nur ein relativ kleines Projekt in Kreuzberg geplant, aber dass dies verhindert wurde, hatte enorme Signalwirkung.

Hat man das in San Francisco registriert?
Natürlich! AktivistInnen aus Deutschland und den USA hatten sich vernetzt. Das muss auch das Ziel sein: internationale Allianzen zu schaffen, sodass Städte nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können und Kapitalflucht nicht mehr ohne Weiteres möglich ist.

Katja Schwaller (39) schätzt in San Francisco vor allem den sozialen Zusammenhalt im Quartier und die umfangreiche analoge Kultur: etwa die vielen guten Platten- und Buchläden.