Medien: «Jede gute Recherche muss eine Grenze verletzen»

Nr. 27 –

Wie der Journalismus das Geschichtsbild der Schweiz verändert hat und warum man an der eigenen Wahrheit besser immer zweifelt: Ein Gespräch mit WOZ-Redaktor Stefan Keller aus Anlass seiner Pensionierung.

«Es ist gefährlich zu glauben, eine Geschichte verstanden zu haben, bevor man sich ans Schreiben macht»: Stefan Keller, «dienstältester Volontär der WOZ».

WOZ: Stefan, nach fast 35 Jahren Tätigkeit für die WOZ wirst du pensioniert. Dabei giltst du auf der Redaktion immer noch als dienstältester Volontär. Wie kamst du zu diesem Ruf?
Stefan Keller: Ich wurde einmal an einem WOZ-Fest interviewt, wer ich denn sei. Da habe ich nicht mehr ganz nüchtern ins Mikrofon gebrüllt: «Der dienstälteste Volontär!» Es stimmt zwar, dass ich nach einer Ferienvertretung nicht mehr gegangen, sondern einfach auf der Redaktion geblieben bin. Aber wie immer hat ein solcher Spruch auch einen tieferen Grund. Ich hatte nie das Gefühl, ich sei jetzt ein routinierter, ausgelernter Journalist. Ich glaube, dass es in Berufen wie dem unseren wichtig ist, sich immer als Lernenden zu betrachten. Sobald man das Gefühl hat, auch als Historiker übrigens, dass man etwas routiniert tut …

… wechselt man besser den Beruf.
Genau. Wenn man es dann noch merkt.

Was ist das Wichtigste, das du über die Jahre gelernt hast?
Dass man bei jeder Recherche von vorne beginnen muss. Es ist gefährlich zu glauben, eine Geschichte verstanden zu haben, bevor man sich ans Schreiben macht. Man muss sie im Gegenteil so erzählen, als ob man es das erste Mal täte. Sonst landet man schnell in Klischees. Mir geht es beim Schreiben häufig so, dass ich zu zweifeln beginne, was ich da mache, warum ich es überhaupt mache. Diesen Zweifel sollte man sich erhalten. Daneben gibt es den alten Grundsatz von Niklaus Meienberg: Bei jeder guten Recherche muss man irgendwo eine Grenze verletzen. Er hat sogar gesagt, es müsse immer etwas Illegales dabei sein.

Wo hast du eine Grenze verletzt?
Meine erste grosse historische Recherche handelte von Maria Theresia Wilhelm, einer österreichischen Kellnerin, die 1960 im Rheintal spurlos verschwunden war. Ihr Sohn, David Gantenbein, hatte auf der WOZ angerufen, ob wir nicht nach ihr suchen könnten. David war selbst Verdingbub gewesen, dann als Matrose dem fürsorgerischen Terror der Schweiz entkommen. Wir fanden heraus, dass Theresia Wilhelm in die Psychiatrie eingewiesen worden war. Um ihre Geschichte erzählen zu können, mussten wir die Akten klauen. Wir haben sie kopiert und zurückgegeben. Heute würden wir dafür wohl vom Presserat eins auf den Deckel bekommen.

Glaubst du, dass Meienbergs Aufforderung zur Regelverletzung noch brauchbar ist? Im Internetzeitalter müssen JournalistInnen bei den Persönlichkeitsrechten sensibler sein.
Die Aufforderung ist nicht so gemeint, dass man sie gegen die Leute benutzt. Wir haben die Akten ja für die Kinder geklaut, die das Schicksal ihrer Eltern kennen wollten. Es geht um einen Regelbruch mit der Macht: dass man sich nicht mit den Informationen begnügt, die man erhält, und immer einen Zacken weitergeht, als man ursprünglich vorhatte.

Nach Maria Theresia Wilhelm hast du die Geschichte des Flüchtlingshelfers Paul Grüninger aufgearbeitet, später zu den IndustriearbeiterInnen von Saurer geschrieben. Wie kamst du überhaupt zur Geschichte? Soweit ich weiss, wolltest du ursprünglich in die Lyrik.
Ja, ich war einmal die Hoffnung der Oberthurgauer Mundartlyrik. Ich wollte Dichter werden, habe Germanistik studiert, nebenher Geschichte und Philosophie. Während des Studiums haben wir kein einziges Mal mit Originalquellen gearbeitet, Geschichte habe ich nur vom Hörensagen gekannt. Als ich dann als freier Journalist zu arbeiten begann, bin ich plötzlich auf Leute gestossen, die diese Geschichte erlebt hatten. Das fand ich faszinierend. Die ersten waren Ernst und Gerda Rodel in Arbon: Er war Redaktor der «Thurgauer Arbeiterzeitung», sie jüdische Emigrantin mit kommunistischem Hintergrund.

Wie wichtig waren mündliche Quellen bei deiner Arbeit?
Extrem wichtig. Bei Maria Theresia Wilhelm kannte ich zuerst nur die Aktensicht. Bei Psychiatrie- und Fürsorgefällen ist die immer denunziatorisch. Ich musste mich also um andere Sichtweisen bemühen. Aber Theresia Wilhelm war verschwunden, ihr Mann verstorben. Ich bin dann drei Wochen am Grabserberg von Hof zu Hof gegangen, um die alten Leute zu befragen. Die Frau sass meist beim Fenster am Nähen, der Mann las auf dem Kanapee Zeitung. Ich bin jeweils extra am Nachmittag hin, wenn die Jungen ausser Haus waren.

Warum?
Damit sie die Alten nicht davon abhielten, mir etwas zu erzählen. Zuerst wollten auch die von nichts wissen. Ich habe dann über das Wetter geredet und die Kühe. Als Kind vom Land konnte ich zum Glück über jede Kuh reden. Dann sind wir meist eine Viertelstunde gesessen, und plötzlich sagte der Mann oder die Frau: «Ja, eben, wegen der Resi. Das war damals so …» Und ich begann, möglichst unauffällig Notizen zu machen. Auch beim Fall Grüninger waren die Akten denunziatorisch und erst noch unvollständig. Mir fiel dann rasch auf, dass bisher niemand die Flüchtlinge befragt hatte. So fing ich an, die Geschichte von unten her zu rekonstruieren.

Paul Grüninger hat als Polizeihauptmann des Kantons St. Gallen vor dem Zweiten Weltkrieg Hunderten von jüdischen Flüchtlingen das Leben gerettet. Weil er die Gesetze missachtete, wurde er entlassen. Wie hast du die Flüchtlinge gefunden, die Grüninger rettete?
Dafür war Gerda Rodel in Arbon wichtig. Sie kannte einen Flüchtling, der in Wien lebte, der kannte einen in Zürich, und dieser hat mich dann an Harry Weinreb in Genf verwiesen, der als Erster sagte: «Paul Grüninger hat mein Leben gerettet.» Weinreb kannte drei Flüchtlinge in Kalifornien, bald meldeten sich Leute aus der halben Welt, es war wie ein Schneeballsystem.

Wie hat die Perspektive der Flüchtlinge deine Annahmen über Grüninger verändert?
Ursprünglich fand ich an Grüninger interessant, dass er als Polizeihauptmann dem gleichen Justizapparat zum Opfer gefallen war wie Theresia Wilhelm. Die Erzählungen der Flüchtlinge, aber auch die der Polizisten, haben dann die universelle Dimension seines Handelns sichtbar gemacht. Ich will nicht sagen, dass ich die wahre Geschichte geschrieben habe, aber man kommt der Wahrheit viel näher, wenn man sie von den Leuten und nicht von den Akten her erzählt. Da kommt man natürlich sofort in Konflikt mit der akademischen Geschichtsschreibung, die mündliche Quellen gerne als subjektiv gefärbt betrachtet. Aber das sind Akten zur Flüchtlingspolitik ebenso: Die sind von antisemitischen, rassistischen, chauvinistischen Vorurteilen der Beamten geprägt.

Worauf muss man bei einem Oral-History-Gespräch mit ZeitzeugInnen achten?
Das Entscheidende ist die Offenheit. Das heisst, du musst gut unterrichtet über die Situation ins Gespräch rein. Du musst viel wissen, damit du das Gesagte einordnen, bei Widersprüchen nachfragen kannst. Aber du musst das Gegenüber als Quelle immer ernst nehmen. Manchmal erweist sich später als richtig, was du im ersten Moment für völlig unglaublich hältst. Bei Grüninger war es mir wichtig, keinen Mythos zu konstruieren. Ich habe nicht nach Bestätigungen gesucht, sondern nach Ausschlusskriterien. Nur so konnte ich glaubhaft die Gerüchte widerlegen, dass Grüninger korrupt oder ein Anhänger der Nazis gewesen sein soll. Wie bei einem Schattenriss habe ich möglichst alles um Grüninger herum erhellt – und so ein Profil von ihm erhalten.

Dein Buch «Grüningers Fall» ist zuerst als Serie in der WOZ erschienen. Es hat die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mitgeprägt. Wie wichtig war der Journalismus dafür generell?
Man kann positiv sagen, dass der Journalismus eine grosse Pionierrolle hatte, oder negativ, dass die akademische Geschichtsschreibung jahrzehntelang völlig versagt hat. Ohne die journalistischen und dokumentarischen Arbeiten wie «Das «Boot ist voll» von Alfred A. Häsler, «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» von Niklaus Meienberg oder die Fernsehserie «Die Schweiz im Krieg» von Werner Rings hätte es keine Aufarbeitung gegeben. Die akademische Geschichtswissenschaft hat manche Arbeiten sogar bekämpft: Sie seien zu politisch. Aber sie taten halt weh.

Woher kam diese Abwehrhaltung der Universitäten?
Ich erkläre es mir so: Universitäten haben bis heute eine autoritäre Struktur. Man muss sich hochdienen, es gibt viele Abhängigkeiten und damit Anlässe für Opportunismus. In der Geschichtswissenschaft führt das zu Unbeweglichkeit, was zum Beispiel mündliche Quellen anbelangt. Sie erscheinen als zu riskant. Und in einem hierarchischen System sollte man wohl nichts Riskantes machen.

War die historische Reportage auch deshalb so wirkmächtig, weil du und andere sie benutzen konnten, um das Bollwerk der bürgerlichen Schweiz im Kalten Krieg anzugreifen?
Wir haben natürlich schon gemerkt, dass dieses Bollwerk brüchig war. Und in seiner Brüchigkeit hat es sich auch noch saublöd angestellt. Im Fall Grüninger hat die St. Galler Regierung jeden Fehler gemacht, den sie machen konnte.

Im Journalismus ist die historische Reportage heute weniger in Mode. Geschichte wird meist auf Sonderseiten oder in Fachmagazinen abgehandelt. Teilst du diesen Eindruck?
Ich habe den Verdacht, es ist eher ein Problem der Reportage und nicht der Geschichte. Früher hattest du vorne in der NZZ einen reaktionären Leitartikel, den Börsenteil und zuhinterst eine aufklärerische Reportage. Das ist nur noch selten so. Die Reportage wurde zu sehr zu einer Kunstform, zu einem Stück Literatur, in Magazine ausgelagert. Genau in dem Moment fing übrigens auch die Sache mit den Fälschungen an.

Man müsste also die Reportage aus ihrer Kunstform befreien?
Ja, und es gibt ja auch Leute, die sie wieder schräger machen wollen, damit sie nicht aufgeht, nicht zu einer runden Geschichte wird. Die Wirklichkeit rundet sich doch auch nicht.

Nächste Woche erscheint mit der WOZ ein «wobei»-Magazin zur Geschichte der linken Presse. Du hast diese Ausgabe betreut. Was hat dich daran interessiert?
Vielen Leuten ist gar nicht mehr bewusst, dass es einmal eine unglaubliche Zahl von linken Zeitungen in der Schweiz gab, um die neunzig, mehr als ein Dutzend erschienen täglich. Bis in die neunziger Jahre gingen sie fast alle unter. Mich hat interessiert, ob das ein Verlust war oder ob sie einfach von der Zeit überholt wurden.

Wie lautet dein Schluss?
Ich glaube, es lag an der Zeit. Die Parteizeitungen waren ein Modell, das nicht mehr funktioniert hat. Wir würden beide nicht dort arbeiten wollen, wenn es sie noch gäbe. Eine meiner Thesen lautet, dass sich die Auflagenzahl der WOZ mit jener der Arbeiterpresse kreuzt. Die der Arbeiterpresse geht hinunter, die der WOZ hinauf. Langsam, aber sie geht hinauf.

Wohin sollte sich die WOZ entwickeln?
Das muss die Redaktion selber wissen. Ich habe ein gutes Gefühl. Die WOZ ist professioneller als früher, weniger dogmatisch. Aber wach. Elementar ist, dass sie unabhängig bleibt und doch nahe an den Bewegungen. Damit sie mitbekommt, was passiert.

In der nächsten WOZ: «Von ArbeiterInnenzeitungen zu autonomen Blogs» – das «wobei» zur linken Presse in der Schweiz.