Kommentar von Jan Jirát: Die Zombies der Energiepolitik

Nr. 31 –

Die Debatte um die Laufzeit der Schweizer Atomkraftwerke ist neu lanciert – und könnte bald einen gewaltigen Schub erhalten.

«Operation Atom» – so nennt der «Blick» das Vorpreschen von SVP-PolitikerInnen zum Thema Atomkraftwerke. Zunächst forderte Magdalena Martullo-Blocher, die Laufzeit der bestehenden Atomkraftwerke zu verlängern. Letzte Woche doppelte Albert Rösti mit dem Vorschlag nach, das Neubauverbot für AKWs aus dem Gesetz zu kippen. Eine entsprechende Motion hat die SVP bereits eingereicht. Nun passiert es im Sommerloch durchaus, dass die Medien ein Thema aufbauschen, doch hinter dem rechtsnationalen Pro-Atom-Auftritt steckt Substanz.

Bereits Ende Juni brachte Pascal Previdoli, Vizechef des Bundesamts für Energie (BFE), an einer Veranstaltung des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen den Vorschlag ins Spiel, die AKWs sechzig Jahre statt der vorgesehenen fünfzig Jahre laufen zu lassen. Hintergrund des Vorschlags war das gescheiterte Rahmenabkommen, das gleichbedeutend mit dem Aus für das geplante Stromabkommen ist. Das hat – durchaus berechtigte – Befürchtungen um die Stromversorgungssicherheit geweckt. Um ihrem Anliegen nochmals Schub zu verleihen, bringen die AKW-BefürworterInnen neben der Versorgungssicherheit gezielt die angebliche Klimafreundlichkeit der Atomenergie in die Debatte ein.

Es ist der Punkt, der zurzeit auch im Mittelpunkt des wohl wichtigsten energiepolitischen Machtkampfs in Europa steht. Im Rahmen des «European Green Deal», einer Wachstumsstrategie der EU-Kommission, die auf Treibhausgasfreiheit bis 2050 setzt, wird begleitend ein Klassifizierungssystem aufgebaut: die sogenannte EU-Taxonomie, mit der künftig wirtschaftliche Aktivitäten nach ihrer ökologischen Nachhaltigkeit eingestuft und entsprechend gefördert werden sollen. Dafür sind Investitionen in der Höhe von bis zu einer Billion Euro vorgesehen. Die grosse Streitfrage ist, ob Atomkraftwerke nachhaltig sind und somit Zugriff auf das grösste klimapolitische Investitionsprogramm der EU-Geschichte hätten.

Kaum verwunderlich, hat die europäische Atomlobby, insbesondere der Branchenverband Foratom, dem auch das Nuklearforum Schweiz angehört, in den letzten zwei Jahren alles in die Waagschale geworfen, um die Atomenergie in die EU-Taxonomie zu hieven – und quasi offiziell als nachhaltig zu gelten. Der entsprechende Entscheid der EU-Kommission wird im September erwartet. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich die Atomlobby durchsetzt. Diesen März publizierte etwa die hauseigene Forschungsstelle der EU-Kommission, die Gemeinsame Forschungsstelle (GFS), einen Bericht, der die Aufnahme der Atomenergie in die Taxonomie-Verordnung empfiehlt. Brisanterweise wird die GFS massgeblich von der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) finanziert – allein für den Zeitraum der nächsten fünf Jahre mit 532 Millionen Euro –, somit von jener Organisation, die seit 1957 offiziell die Förderung und Entwicklung der Atomenergie in Europa vorantreibt.

Der GFS-Bericht steht im Widerspruch zur früheren Einschätzung der Technical Expert Group on Sustainable Finance (TEG). Diese kam zum Schluss, Atomenergie könne nicht als nachhaltig eingestuft werden. Sie attestierte ihr zwar niedrige Treibhausgasemissionen – wobei beim Uranabbau, beim Kraftwerksbau und -rückbau sowie bei der Endlagerung durchaus relevante Emissionen entstehen –, erkannte aber Konflikte mit anderen Umweltzielen, insbesondere das ungelöste Entsorgungsproblem des radioaktiven Atommülls.

Der Entscheid der EU-Kommission ist wegweisend. Stuft sie die Atomenergie als nachhaltig ein, wird das der Atomindustrie gewaltigen Auftrieb verleihen. Und die bereits lancierte Debatte über den Langzeitbetrieb der Schweizer AKWs befeuern. Das wäre fatal: Statt den europaweiten Ausbau einer sauberen und sicheren Stromproduktion voranzutreiben, wird die gefährliche, generationenungerechte und teure Atomenergie künstlich am Leben erhalten.