Schweizer Exporte: Der Drache aus Stans im «War on Terror»
Die USA führten ihren Krieg in Afghanistan auch mit dem PC-12 von Pilatus. Jetzt könnte das Aufklärungsflugzeug den Taliban in die Hände fallen. Die Geschichte eines bewussten Kontrollversagens von Behörden und Politik.
Caitlin Reilly ist Majorin der US-Luftwaffe und stolze Preisträgerin der Mackay Trophy, mit der die Air Force den «verdienstvollsten Flug des Jahres» auszeichnet. Reilly und ihre dreiköpfige Crew erhielten diesen Preis für einen Aufklärungsflug im Rahmen einer tödlichen US-Militäroperation in Afghanistan am 14. August 2018.
«Draco» – der Drache – ist der offizielle Spitzname des Aufklärungsflugzeugs, das damals im Einsatz stand. Dabei handelt es sich um eine modifizierte Version des PC-12, eines einmotorigen Turbinenflugzeugs der Pilatus Flugzeugwerke AG aus Stans in Nidwalden. Das Flugzeug aus der Innerschweiz war das zentrale Koordinationsorgan der erwähnten Spezialoperation, wie die Preisjury explizit festhielt. Das war kein Einzelfall, im Gegenteil. Der PC-12 von Pilatus ist bis heute ein zentraler Bestandteil von Luftangriffen im US-Krieg gegen den Terror.
Aufgerüstet für Luftangriffe
Anfang 2005 stellten die US-Streitkräfte einen steigenden Bedarf an zusätzlicher Aufklärung und Überwachung fest. Diese brauchten sie für sogenannte «Find, fix, finish»-Spezialoperationen im Rahmen ihres «War on Terror»: extraterritoriale, gezielte Tötungsmissionen, ausgeführt von Drohnen, Helikoptern und Flugzeugen unter Miteinbezug von Spezialeinheiten. Solche Operationen fanden in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere in Afghanistan, im Irak, in Somalia sowie im Jemen statt. Sie erlaubten es, Angriffe zu lancieren, ohne Bodentruppen in feindliches Gebiet entsenden zu müssen. Das Surren in der Luft beim Anflug, die plötzlichen Luftschläge verbreiteten in den betroffenen Regionen Angst und Schrecken.
Als ideales Flugzeug für diese tödlichen Missionen erwies sich der eigentlich zivil konzipierte PC-12. Die Flugzeuge beschaffte sich die US-Luftwaffe 2006 von privaten Anbietern in den USA selbst, die technologische Aufrüstung übergab sie der privaten Rüstungs- und Technologiefirma Sierra Nevada Corporation (SNC). Diese rüstete die PC-12 mit gesicherten Datenverbindungen zur Nato und zum US-Verteidigungsministerium sowie der Fähigkeit zur Full-Motion-Videoübermittlung aus.
Dass die Wahl auf das Pilatus-Flugzeug fiel, war alles andere als ein Zufall: Ein Vorteil war gerade sein ziviler Ursprung, der rein äusserlich keinerlei Verdacht weckte, zu tödlichen Militäroperationen unterwegs zu sein. Zentral war auch die Fähigkeit, von unebenen und improvisierten Pisten zu starten. Auch punkto Tragfähigkeit, Streckenvermögen und Unterhaltskosten schnitt der PC-12 gut ab.
Insgesamt 28 modifizierte PC-12 stehen derzeit für die US-Luftwaffe unter dem Kürzel U-28A im Einsatz. Genauer gesagt: im Dauereinsatz. Im Februar dieses Jahres feierte die US-Militärzeitschrift «Janes» 600 000 PC-12-Flugstunden im Dienst der Air Force. Weit über die Hälfte davon erfolgte ausserhalb der USA im Rahmen des «War on Terror». In diesem von den USA angeführten, seit zwanzig Jahren andauernden Krieg starben gemäss dem Forschungszentrum Watson Institute bisher über 800 000 Menschen, davon waren mehr als 300 000 ZivilistInnen.
Auch der preisgekrönte PC-12-Flug vom 14. August 2018 stand im Zeichen dieses Kriegs: Ein Abgleich mit dem offiziellen Bericht an den US-Kongress über militärische Angriffe von US-Streitkräften in Afghanistan ergibt, dass der Flug bei heftigen Kämpfen um die Provinzstadt Ghasni stattgefunden haben muss. Dort bekämpften sich Mitte August 2018 während vier Tagen Talibantruppen und afghanische Streitkräfte mit internationaler Unterstützung. Die Bilanz war verheerend: 150 tote afghanische Streitkräfte, 220 tote Taliban und 95 tote ZivilistInnen. Besonders schwer wog ein mutmasslich US-geführter Luftangriff am 14. August 2018, bei dem gemäss Medienberichten 16 StadtbewohnerInnen, darunter auch Kinder, ums Leben kamen.
Während ihrer Einsätze tragen die US-Piloten in ihren PC-12 übrigens gerne einen Totenkopfpatch auf ihren Uniformen mit dem Motto der U-28A-Flotte: «We will find you!» – Wir werden dich finden!
Am Anfang der Geschichte von «Draco» hätte man sagen können: Pilatus war nicht aktiv in die militärische Umnutzung involviert. Und der Bund respektive das für die Exportkontrolle zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) konnte nicht ahnen, dass die zivil konzipierten PC-12 nach dem Export in die USA schliesslich von der US-Luftwaffe aufgekauft und aufgerüstet werden sollten. Doch die Geschichte endet nicht an diesem Punkt.
Seco wusste alles
Ab 2008 begann Pilatus ein «radikal verbessertes» Modell zu promoten, den PC-12 Spectre: «Ein neuer Spectre jagt die bösen Buben» lautet der Titel eines offiziellen Marketingschreibens. Und im aktuellen Firmenprospekt wird gar explizit mit dem militärischen Verwendungszweck geworben: «Der PC-12 Spectre wird aktiv von Insidern für Spezialoperationen in einigen der schwierigsten und rauesten Umgebungen rund um den Globus eingesetzt.» Dass der Stanser Flugzeugbauer proaktiv für eine militärische Nutzung zu werben begann, führte durchaus zum Geschäftserfolg: So besitzt heute etwa die irische Luftwaffe drei PC-12 Spectre.
Eine weitere Wendung erhält die Geschichte im Oktober 2012, als ein pikanter Auftrag des US-Verteidigungsministeriums bekannt wird: Die SNC, jene Rüstungsfirma, die für die Aufrüstung der ersten PC-12 verantwortlich war, sollte nun weitere achtzehn dieser Flugzeuge für die afghanischen Streitkräfte kaufen und aufrüsten. Der Lohn für diesen Auftrag: 218 Millionen Dollar.
Das für die Exportkontrolle zuständige Seco kannte die Hintergründe dieses Deals: Es wusste genau, dass der Endabnehmer die afghanischen Streitkräfte waren und dass die PC-12 in den USA militärisch aufgerüstet werden. Trotzdem stufte es den Export als problemlos ein. Mehr noch: Er galt für sie noch nicht einmal als Rüstungsdeal. Die offizielle Begründung des Seco: «Bei den aus der Schweiz ausgeführten Flugzeugen des Typs PC-12 NG handelte es sich ausschliesslich um zivile Standardversionen, die keine militärischen Spezifikationen aufweisen.» Anders ausgedrückt: Entscheidend für die Schweizer Exportkontrolle ist die Spezifikation eines Produkts, nicht aber der Endabnehmer.
Letztes Wochenende sorgte nun die Meldung für Schlagzeilen, dass mehrere der achtzehn PC-12 im Besitz der afghanischen Streitkräfte in die Hände der Taliban geraten sein könnten. Bisher hat sich dieser Verdacht allerdings nicht erhärtet.
Die lasche Exportkontrollpraxis des Seco im Fall der PC-12 gerät angesichts der neusten Entwicklungen in Afghanistan und der zentralen Beteiligung des Flugzeugs am «War on Terror» unter Druck. Für Priska Seiler Graf, SP-Nationalrätin und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission (SPK), zeigt der vorliegende Fall eine Gesetzeslücke auf: «Es braucht beim Export von überwiegend zivil genutzten Flugzeugen eine Auflage, die verhindert, dass diese im Ausland zu militärisch verwendbaren Flugzeugen umgebaut und an militärische Endabnehmer weiterverkauft werden.» Marionna Schlatter, grüne Nationalrätin und ebenfalls SPK-Mitglied, sieht es ähnlich: «Der konkrete Fall zeigt die heuchlerische Haltung der Schweiz auf und offenbart das eigentliche Problem unserer Gesetzgebung: Da bestehen Schlupflöcher, um Schweizer Unternehmen zu ermöglichen, im Krieg eingesetztes Material zu verkaufen, ohne dass sie dafür geradestehen müssen.»
Schweigen in Stans
Die gezielte Tötung von Terrorverdächtigen sei in den meisten Fällen unvereinbar mit dem Gewaltverbot der Uno-Charta, dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten, ergänzt SP-Rüstungsexpertin Seiler Graf: «Diese nicht verhandelbaren Grundsätze scheinen den Bundesrat aber nicht mehr zu kümmern, wenn es um die Geschäftsinteressen der Pilatus Flugzeugwerke AG geht.»
Gerne hätte die WOZ im Rahmen dieser Recherche auch mit Pilatus gesprochen und den Standpunkt der Firma berücksichtigt. Aus Stans kam keine Antwort, nur komplette Kommunikationsverweigerung.
Mitarbeit: Emmanuel Freudenthal.