Dual-Use-Güter: Werkzeuge für Putins Krieg
Bis vor kurzem exportierte die Schweiz Werkzeugmaschinen nach Russland – teils ohne jegliche Kontrollen. Dortige Mischkonzerne setzten diese zur Produktion von Rüstungsgütern ein, die nun gegen die Ukraine zum Einsatz kommen.
Eigentlich ist Roman Wybranowski Journalist und politischer Berater. Doch seit Russlands völkerrechtswidrigem Angriff auf sein Heimatland im Februar hat der 44-Jährige eine neue Aufgabe: Er arbeitet für den wirtschaftlichen Sicherheitsrat der Ukraine (Escu) – eine staatliche Institution, die Analysen und Berichte über Bedrohungen für die wirtschaftliche Sicherheit des Landes erstellt. «Europäische Maschinenhersteller gewichten Profite höher als die Leben von Ukrainern und Ukrainerinnen», so beginnt ein Escu-Bericht, der diesen Sommer publiziert wurde. Darin geht es vor allem um ein bestimmtes europäisches Land, das in der Produktion von Werkzeugmaschinen weltweit einen hervorragenden Ruf geniesst: die Schweiz.
«Russland ist bezüglich seiner Güterproduktion völlig abhängig vom Import ausländischer Werkzeugmaschinen, die zuverlässig und hochwertig sind und regelmässig gewartet werden. Auch die russische Rüstungsindustrie und die entsprechenden Waffenhersteller sind auf solche Maschinen angewiesen», sagt Wybranowski auf Anfrage der WOZ.
Vor diesem Hintergrund hätten sie beim wirtschaftlichen Sicherheitsrat der Ukraine gemeinsam mit dem Investigativprojekt «InformNapalm», wo Journalistinnen, Experten und Aktivist:innen ihre Informationen und Recherchen teilen, offizielle russische Beschaffungswesen- und Steuerdaten ausgewertet. Und seien dabei auf mehrere Schweizer Lieferungen gestossen, die letztlich in den Händen von russischen Rüstungsfirmen gelandet seien. Im Bericht werden fünf Schweizer Firmen aufgelistet: GF Machining Solutions, Fritz Studer AG, Codere SA, Sylvac SA und Galika AG, die bei mehreren Exportgeschäften eine Sonderrolle als Vermittler einnahmen.
«Wir haben beispielsweise herausgefunden, dass der russische Flugzeugmotorenhersteller PJSC Kuznetsov Schleifmaschinen der Schweizer Firma Fritz Studer AG verwendet. Die Maschinen sind 2018 im Auftrag des russischen Verteidigungsministeriums gekauft worden. PJSC Kuznetsov produziert für strategische Bomber wie den Tu-22 Triebwerke, die zurzeit von der russischen Luftwaffe aktiv im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden», so Wybranowski.
Ein weiteres Beispiel seien Wärmebehandlungsanlagen der jurassischen Firma Codere SA, die 2016 vom russischen Werk Elektromashina gekauft wurden, das unter anderem Bestandteile für russische Panzer herstellt. «Jetzt gerade sind die Mündungen russischer Panzer auf Saporischschja gerichtet, das grösste AKW Europas. Die tödliche Gefahr, die davon ausgeht, reicht weit über die Ukraine hinaus», sagt Wybranowski.
Hinter dem Bühnenvorhang
Die Recherche mag die Sichtweise des ukrainischen Staates wiedergeben und den Zusammenhang zu aktuellen Kriegsereignissen teils überspitzt darstellen. Doch sie ist in dreifacher Hinsicht erhellend und relevant. Erstens rückt sie mit den Werkzeugmaschinen eine Kategorie in den Fokus, die gerne vergessen geht, wenn es um die Profiteure der Schweizer Rüstungsindustrie geht. Zweitens zeigt die Recherche auf, dass die Kontrolle von Werkzeugmaschinenexporten mit der aktuellen Gesetzgebung völlig unzureichend ist. Und drittens liegt im konkreten Fall auch eine politische Verantwortung vor – allen voran von der FDP, weil wirtschaftliche Interessen höher gewichtet wurden als sicherheitspolitische und menschenrechtliche Bedenken.
Grundsätzlich sind im Rüstungsbereich das fertige Produkt und der Herstellungsprozess dahinter zu unterscheiden. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Rüstungsgüter weit grössere Beachtung finden: Waffensysteme wie die Panzer der Thurgauer Firma Mowag oder Lenkwaffenwerfer von Rheinmetall Air Defence aus Zürich Oerlikon, aber auch Sturmgewehre von SIG Sauer aus Neuhausen am Rheinfall sowie die militärischen Trainingsflugzeuge von Pilatus sind einzig und allein für den militärischen Gebrauch konzipiert und produziert. Es sind Güter, die quasi auf der Kriegsbühne sichtbar sind. Die Schweizer Hersteller solcher Güter sind im WOZ-Rüstungsreport systematisch erfasst; dieser Bereich ist für die Öffentlichkeit also mittlerweile relativ transparent.
Die Werkzeugmaschinen hingegen, mit denen diese Rüstungsgüter hergestellt werden, bleiben allzu oft hinter dem Bühnenvorhang. Tatsächlich ist kaum eine Werkzeugmaschine explizit für die Herstellung von Waffen konzipiert. In vielen Fällen handelt es sich um sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke einsetzbar sind. Für diese Art von Gütern gelten weniger strikte Exportkontrollen als für eindeutig militärisch konzipierte. Und sofern Werkzeugmaschinen bestimmte technische Kriterien nicht erfüllen, unterliegen sie keinerlei Exportbeschränkungen – unabhängig davon, ob der Endabnehmer Waffen produziert. Kontrollmechanismen sind inexistent. Im März 2019 wies Balthasar Glättli, heute Präsident der Grünen Partei, auf diese Lücke hin. In einer Motion verlangte er eine grundsätzliche Meldepflicht für den Export jeglicher Güter, wenn der Endabnehmer bekanntermassen Waffen produziere. Die Motion wurde im Parlament nie behandelt und ist mittlerweile abgeschrieben.
Auf Russland bezogen heisst das: Bis zum 4. März, als die Schweiz die EU-Sanktionen übernahm, konnten Werkzeugmaschinen, die nicht als Dual-Use-Gut deklariert waren, ohne gesetzliche Restriktionen nach Russland ausgeführt, vermittelt und verkauft werden, wie das für die Exportkontrolle zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bestätigt: «Diese Güter sind erst seit dem 4. März 2022 von den Sanktionslisten erfasst und zur Ausfuhr beziehungsweise zum Verkauf nach Russland verboten.»
Vor dem 4. März gelangten folglich gewisse Schweizer Werkzeugmaschinen ohne Kontrollen auf den russischen Markt. Dort spielen sogenannte Mischkonzerne eine zentrale Rolle – Betriebe, die sowohl für den zivilen wie auch den militärischen Sektor produzieren. Für die Schweizer Maschinenbaubranche war Russland ab den nuller Jahren ein wachsender Markt. 2013 exportierte die Schweiz Werkzeugmaschinen im Umfang von rund hundert Millionen Schweizer Franken nach Russland. Doch im März 2014 folgte die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Und im September 2015 trat Russland auf der Seite des Diktators Baschar al-Assad in den Syrienkrieg ein – vor allem mit Luftangriffen, die gemäss Human Rights Watch verheerende Folgen für die dortige Zivilbevölkerung hatten.
Powerplay von Swissmem und FDP
Nach der Krimannexion war der Bundesrat durchaus gewillt, die Kontrolle der Exporte nach Russland zu verschärfen. Gemäss dem «St. Galler Tagblatt» wies er das zuständige Seco im August 2014 an, «Ausfuhren von Dual-Use-Gütern in die zwei Länder nur noch restriktiv zu bewilligen, wenn diese für militärische Zwecke verwendet werden könnten». Offenbar sehr zum Missfallen der Schweizer Maschinenbauindustrie und ihrem mächtigen Dachverband Swissmem, die im Lauf des Jahres 2015 erfolgreich bei kantonalen Volkswirtschaftsdirektor:innen und wirtschaftspolitischen Verbündeten intervenierten.
Insbesondere bei der damaligen St. Galler FDP-Ständerätin und heutigen Justizministerin Karin Keller-Sutter. Sie reichte kurz vor Weihnachten 2015 eine Interpellation ein, in der sie die verschärfte Seco-Exportkontrollpraxis bezüglich Russland offen kritisierte: «Der Spielraum der Verordnung zugunsten der Schweizer Exportwirtschaft wird damit nicht genutzt, was zu einem faktischen Exportverbot für Dual-Use-Güter führt, selbst wenn diese nachweislich lediglich zivil genutzt werden», schrieb Keller-Sutter. Aufgrund der im internationalen Vergleich restriktiven Exportkontrolle des Bundes könnten wertvolle Industriearbeitsplätze in der Schweiz verloren gehen.
Der Bundesrat unter Federführung des damaligen FDP-Wirtschaftsministers und einstigen Swissmem-Präsidenten Johann Schneider-Ammann änderte darauf im Februar 2016 die Praxis wieder: «Die Ausfuhr von Dual-Use-Gütern an zivil-militärische Mischbetriebe ist sodann grundsätzlich bewilligungsfähig.» Von da an war das Seco angewiesen, praktisch alle Gesuche für Exporte von Schweizer Dual-Use-Gütern nach Russland zu bewilligen – gerade auch an Mischbetriebe.
Der heutige FDP-Präsident Thierry Burkart verteidigt das Powerplay seiner Parteikolleg:innen: «Der Entscheid war damals richtig», sagt er. Die Anfang 2016 vom Bundesrat beschlossene Ausfuhrpraxis habe jener der wichtigsten Handelspartner, namentlich der EU, entsprochen. «Ein Alleingang wäre aber auch nicht im Interesse der Schweiz gewesen, und eine noch restriktivere Exportpraxis hätte ein faktisches Exportverbot von Dual-Use-Gütern bedeutet», so Burkart.
«Füttern des Monsters»
Bleibt die Frage, was die betroffenen Schweizer Firmen zur Recherche aus der Ukraine sagen. Die WOZ hat alle fünf im Bericht genannten Unternehmen mehrfach damit konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten. Nur die Sylvac SA aus dem Kanton Waadt meldete sich zurück. Man wolle sich nicht zu einzelnen konkreten Geschäften äussern, habe sich aber immer an geltende Gesetze gehalten und eng mit dem Seco zusammengearbeitet. Auch das Seco selbst will sich nicht zu einzelnen Firmen äussern, bestätigt jedoch, dass es den Bericht kenne und geprüft habe.
Die WOZ hat die ukrainische Recherche zusätzlich vom russischen Militärexperten Pawel Luzin auswerten lassen. Er kommt zum Schluss, dass die Fakten korrekt sind. Luzin hält es für plausibel, dass die Schweizer Werkzeugmaschinen zur Herstellung von russischem Kriegsmaterial eingesetzt wurden und werden. Hingegen sei es fast nicht möglich, konkret und detailliert nachzuweisen, ob und in welcher Form Schweizer Maschinen an der Produktion von russischen Waffen und Rüstungsgütern beteiligt waren, die jetzt im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingesetzt werden.
Roman Wybranowski vom wirtschaftlichen Sicherheitsrat der Ukraine findet für die lasche und politisch gewollte Exportpraxis in Sachen Schweizer Werkzeugmaschinen für Russland zwischen Februar 2016 und März 2022 deutliche Worte: «Russland zeigte der Welt bereits 2014 sein wahres Gesicht als Aggressor, Imperialist und Invasor. Unter diesen Umständen war das Füttern des militärisch-industriellen Komplexes Russlands, das Tätigen von Geschäften mit Russland, gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit dieses Monsters.» Wybranowski fordert von den europäischen Ländern künftig deutlich strengere Exportkontrollen und -mechanismen, insbesondere bei Dual-Use-Gütern.
Neuer Rüstungsreport : Die Profiteure der Aufrüstung
Zum dritten Mal veröffentlicht die WOZ mit dieser Ausgabe den Rüstungsreport. Auf der Plattform rüstungsreport.ch finden sich die neusten Informationen zu den insgesamt 139 Schweizer Unternehmen, die in den letzten Jahren vom internationalen Rüstungsgeschäft profitierten – inklusive ihrer Standorte, ihrer Geschäftstätigkeit und ihrer Geschichte.
Schweizer Rüstungsfirmen lassen sich jährlich Exporte im Umfang von Hunderten Millionen Franken bewilligen. Sie spielen damit eine wichtige Rolle in der globalen Aufrüstung und Überwachung. Das Rüstungsexportgeschäft lässt sich dabei grob in drei Kategorien unterteilen: Kriegsmaterialgüter, besondere militärische Güter und Überwachungstechnologie.
Die Rangliste der Kriegsmaterialausfuhren führten auch 2021 zwei Firmen an: die Rheinmetall Air Defence AG aus Oerlikon, eine Tochter des deutschen Rüstungsgiganten Rheinmetall, und der Thurgauer Panzerbauer Mowag, der zum US-Rüstungskonzern General Dynamics gehört. Sie beantragten letztes Jahr Bewilligungen zur Kriegsmaterialausfuhr im Wert von 709 respektive 438 Millionen Schweizer Franken.
Deutlich kleiner sind die Bewilligungssummen im Bereich der besonderen militärischen Güter, zu denen etwa Trainingsflugzeuge, Ausrüstungsgegenstände aller Art oder auch Nachtsichtgeräte gehören. Die Spitzenreiter Safran Vectronix, eine Tochter des französischen Rüstungsriesen Safran, und die Solothurner Munitionsfabrik Saltech beantragten Exportbewilligungen für knapp 11 Millionen Franken. Was mit Blick auf die Überwachungsunternehmen auffällt: Deren Produkte und Dienstleistungen werden in besonders repressive Staaten wie den Oman, nach Marokko, Pakistan oder China exportiert.
Der Rüstungsreport erschien erstmals im Jahr 2020. Die entsprechenden Daten hatte die WOZ, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, erst nach einem fünfjährigen Rechtsstreit vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erhalten. Bis jetzt kostete die Datenherausgabe über 10 000 Franken. Die Kosten werden vom Förderverein ProWOZ sowie aus einem Legat des Journalisten Jürg Frischknecht gedeckt. Die interaktive Website soll ein Informationsportal zu Entwicklungen rund um die Schweizer Beteiligung am globalen Geschäft mit dem Krieg sein und zu weiterführenden Recherchen anregen.
Die diesjährige Ausgabe ist auch Thema im aktuellen «Hörkombinat»-Podcast. WOZ-Redaktor Jan Jirát spricht über die Schweizer Maschinenbauindustrie und ihre Verstrickungen in die russische Aufrüstung.
Lorenz Naegeli