Sachbuch: Für Europa, aber nur als notwendiges Vehikel
Luuk van Middelaar gehört zu den umtriebigsten Vordenkern der Europäischen Union. In seinem neuen Buch zeigt der Niederländer, wie diese in der Pandemie fast zerbrochen wäre. Doch seine Erfolgsstory hat einen gefährlichen Unterton.
Wer sich intensiver mit der EU-Politik beschäftigt, dem ist der Name Luuk van Middelaar mit Sicherheit schon des Öfteren begegnet. Perry Anderson, der Grandseigneur der linken britischen Geschichtswissenschaften, widmete dem Niederländer vor einigen Monaten eine lange mehrteilige Artikelserie in der «London Review of Books» und bezeichnete ihn darin als «den ersten organischen Intellektuellen der Europäischen Union». Damit spielte er auf den Umstand an, dass van Middelaar nicht nur als Wissenschaftler forscht, sondern dem europäischen Regierungsapparat auch persönlich eng verbunden ist.
Tatsächlich war der 48-Jährige nicht nur Funktionär der wirtschaftsliberalen Partei VVD, die in den Niederlanden seit vielen Jahren den Regierungschef stellt, sondern bis 2014 auch Mitglied im Kabinett des ersten EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Ein Intellektueller also, der immer wieder zwischen Wissenschaft und Politik hin- und hergewechselt ist.
In eben dieser Rolle hat van Middelaar nun ein neues Buch mit dem Titel «Das europäische Pandämonium» vorgelegt. Der schmale, gut lesbare Band beschreibt die Entwicklung der EU während der Covid-19-Pandemie. Van Middelaars zentrale These lässt sich wie folgt skizzieren: Wie schon die Finanz- und die Griechenlandkrise brachte auch die Pandemie die EU an den Rand des Zusammenbruchs. Die Mitgliedstaaten machten ihre nationalstaatlichen Grenzen dicht, medizinisches Material wurde gehortet, und als Italien im Frühjahr 2020 von der ersten Coronawelle schwer getroffen wurde, kam Hilfe aus China, Russland und übrigens auch aus Kuba – aber kaum aus den reichen Nachbarstaaten der EU.
Der grosse Enthüller
Doch auch diesmal, so van Middelaar, habe es die Führung der EU verstanden, das Ruder gerade noch einmal herumzureissen. Die Europäische Union, die sich lange Jahre auf sogenannte Regelpolitik, also bürokratische Verwaltung, beschränkt hatte, sei zur «Ereignispolitik» übergegangen. Diese Veränderung komme zur rechten Zeit, denn die Pandemie wirke als Beschleuniger und treibe auch die globalen Machtverschiebungen weiter voran: «Ereignisse zerschneiden die Zeit nicht nur in ein Davor und Danach», schreibt van Middelaar, «sie sagen auch etwas über das Jetzt.» In der Coronapandemie würden «verborgene Schwächen» ans Licht kommen und «langsame Trends» liessen sich im Moment einfangen. Auf der Weltbühne sieht van Middelaar das Virus als «grossen Enthüller», wie er schreibt: «Das Engagement der Vereinigten Staaten nimmt schlagartig ab, die Hegemonie Chinas ist spürbar, und Europa wird gezwungen, seine geopolitische Position neu zu definieren.»
Vor allem anhand der Auseinandersetzungen um das Hilfsprogramm «Next Generation EU», das Mitte 2020 von wohlhabenden Ländern wie Österreich und den Niederlanden zunächst blockiert worden war, zeigt van Middelaar, wie die EU von heftigen Spannungen erschüttert wurde, ehe sie sich dann doch auf einen tragfähigen Kompromiss einigen konnte – und sich damit am Ende als unverzichtbar erwiesen habe. Das Hilfspaket mit seinen 750 Milliarden Euro beschreibt van Middelaar als einen Mechanismus, der die Haushaltssouveränität der Einzelstaaten respektiere, aber die Perspektive einer europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik eröffnet habe.
Doch solche ökonomischen und sozialen Kompromisse nach innen sind für van Middelaar vor allem deshalb wichtig, weil sie die Voraussetzung für eine Handlungsfähigkeit nach aussen seien – und genau dieses Handeln wiederum stellt für ihn den eigentlichen Zweck der Europäischen Union dar. Für den niederländischen Intellektuellen ist die EU ein notwendiges Vehikel für die europäischen Wirtschaftsunternehmen, um sich in der neuen geopolitischen Konstellation behaupten zu können.
Und wer führt Regie?
Europäische Idee, konkrete Entscheidungsfähigkeit und geopolitisches Projekt sind für van Middelaar also untrennbar miteinander verknüpft. Damit die «strategische Wende Europas» gelingen könne, brauche es «ein selbstbewusstes Narrativ, eine zielstrebige Regie und die Anerkennung der historischen Verbundenheit», wie van Middelaar schreibt: «Nur aus einem gemeinsamen politischen Selbstvertrauen heraus wird die europäische Öffentlichkeit bereit sein, ihre politischen Wortführer in die Welt hinauszuschicken, um ‹im Namen Europas› eine relevante Rolle im schärfer werdenden geopolitischen Interessenkonflikt zu reklamieren.»
Wenn man solche Zeilen liest, versteht man, warum Perry Andersons Kommentar, Luuk van Middelaar sei der «erste organische Intellektuelle der Europäischen Union», nicht unbedingt als Kompliment gedacht war. Van Middelaars Bücher sind Untersuchungen, die zugleich auch als Bestandteil eines politischen Projekts verstanden werden müssen. So will auch «Das europäische Pandämonium» zu jenem «selbstbewussten Narrativ», das van Middelaar hier einfordert, selbst beitragen.
Was als Bekräftigung zwischenstaatlicher Solidarität daherkommt, hat aber einen gefährlichen, bellizistischen Unterton: Den europäischen VordenkerInnen ging es nicht zuletzt darum, die EU für den heraufziehenden globalen Kampf um Ressourcen, Märkte und Einflussgebiete fit zu machen. Mit der ursprünglichen Idee Europas als Friedensprojekt wird diese Union nicht mehr viel zu tun haben.
Luuk van Middelaar: Das europäische Pandämonium. Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt. Edition Suhrkamp. Berlin 2021. 202 Seiten. 24 Franken