Durch den Monat mit Patricia Purtschert (Teil 5): Was ist Ihre Haltung zur Identitätspolitik?

Nr. 39 –

Eine Weile hatte Patricia Purtschert das Gefühl, bei der Frauenbewegung überall zu spät zu kommen. Doch seit dem ersten Frauenstreik weiss sie: Es geht nicht einfach immer so weiter. Gleichstellung kommt nicht von alleine.

«Um Abschottung ging es bei der Identitätspolitik ursprünglich überhaupt nicht», sagt Patricia Purtschert.

WOZ: Patricia Purtschert, vorletzte Woche haben Sie mir die Fussnote korrigiert: «Queere Aktivistin» sei Ihnen lieber als «LGBTQ-Aktivistin». Warum?
Patricia Purtschert: Ich mag an «queer», dass der Fokus eher auf Koalitionen liegt als auf Identitäten – dass sich Menschen mit verschiedensten Geschichten gegen Heteronormativität wenden. Aber es ist kompliziert, und ich versuche, einen fluiden Umgang mit Begriffen zu pflegen. Der Begriff «Lesbe» ist für mich in den letzten Jahren wieder wichtiger geworden.

War er das vorher nicht?
Der Begriff «queer» entstand ja aus der Kritik an Identitätspolitik. Es ging darum, dass es neben lesbisch oder schwul viele andere Formen des Begehrens gibt. Das fand ich befreiend. Aber eigentlich war auch der Begriff der Lesbe immer schon vielgestaltig – da gibt es Femmes, Dykes, Butches, Tomboys und so weiter.

Ohne das Fass allzu weit aufmachen zu wollen: Was ist denn Ihre Haltung zur Identitätspolitik?
Kürzlich habe ich für meine Forschung ein Interview mit Margo Okazawa-Rey geführt, einer der Mitgründerinnen des Combahee River Collective. Das war eine Gruppe von Schwarzen Lesben und bisexuellen Frauen in den USA, die den Begriff der Identitätspolitik in den Siebzigern als Erste benutzten. Mit ihrer Definition kann ich noch immer viel anfangen. Was sie darunter verstanden haben, hat wenig mit dem zu tun, wie wir den Begriff heute brauchen. Okazawa-Rey meint heute, der Begriff sei wohl nicht mehr zu retten. Um Abschottung ging es ursprünglich überhaupt nicht.

Worum ging es dann?
Um Solidarität mit allen Frauen, vor allem auch im Süden, gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, ökonomische Ausbeutung und militaristische Strukturen. Und darum, sich zu überlegen, von welcher gesellschaftlichen Position aus man handelt. Also nicht Selbsterkundung, sondern tiefgreifende Systemkritik. Die verschiedenen Ausbeutungssysteme miteinander in Bezug setzen, das war ihr Grundsatz.

Wie hat das eigentlich bei Ihnen angefangen mit dem politischen Engagement?
Ich bin 1973 geboren, kurz nach Annahme des Frauenstimmrechts. Man hat uns damals erzählt: Jetzt ist alles gut. Aber das stimmte natürlich überhaupt nicht. Darum war der Frauenstreik 1991 für mich ein überwältigendes Ereignis. Ich war achtzehn, habe damals in einem Spital gearbeitet und stiess eher zufällig zum dortigen Streikkollektiv. Das war meine erste Politisierungserfahrung: Auf einmal gehen all diese Frauen gemeinsam auf die Strasse. Ich hatte das Gefühl, es gehe jetzt einfach immer so weiter.

Und dann?
Dann ging es nicht einfach so weiter. In den Neunzigern war ich an den Ausläufern der Neuen Frauenbewegung beteiligt, habe erlebt, wie verschiedene Projekte nicht mehr zukunftsfähig waren, die Villa Kassandra, die Zeitschrift «Emanzipation». Ich hatte eine Weile das Gefühl, überall zu spät zu kommen. Aber dann habe ich mich in die Forschung gestürzt, da herrschte zu der Zeit Aufbruchstimmung. Und es muss ja auch nicht immer alles sofort passieren: Dass wir die Abstimmung zur «Ehe für alle» gewonnen haben, verdanken wir auch den Aktivist:innen von damals – all jenen, die seit Jahrzehnten für diese Rechte kämpfen.

Woran arbeiten Sie aktuell?
An einer Oral History der feministischen Theorie. Ich spreche mit älteren Theoretikerinnen, etwa darüber, wie sich der Begriff «Gender» entwickelt und verändert hat. Für rechte Populisten oder den Vatikan ist dieser in den letzten Jahren zum Symbol eines irregeleiteten Wissens geworden. Ausserdem geht es auch darum, innerhalb der feministischen Bewegung Wissen zu bewahren und weiterzugeben.

Haben Sie den Eindruck, die heutige feministische Bewegung sei geschichtsvergessen?
Im Gegenteil. Ich nehme ein grosses Interesse an feministischer Geschichte wahr, aber das liegt vielleicht auch an meinen Studierenden – die sind natürlich an der Sache interessiert, wenn sie in meine Kurse kommen. Sie wollen verstehen, fragen aber auch kritisch nach, gerade im Bereich der Ökologie. Da bin ich auch selbstkritisch: Haben wir uns diesem Thema genügend gestellt? Es gibt so viel zu tun.

Haben Sie ein gutes Gefühl?
Für die jungen Feministinnen? Ja, der zweite Frauenstreik war toll: zu sehen, wie viele auf die Strasse gehen. Aber es ist auch eine schwierige Zeit. Wir haben es mit grossen Spannungen zu tun, einer ökologischen Krise, rechten Bewegungen, krassem Rassismus. Die gesellschaftlichen Aushandlungen öffnen sich in mehrere Richtungen, nicht nur in emanzipatorischer Hinsicht. Man muss immer wieder für eigentlich selbstverständliche Rechte kämpfen, siehe «Ehe für alle». Demokratien bewegen sich nicht von selbst in Richtung Gleichstellung. Es ist ein spannender und intensiver Moment, der auch schwer zu ertragen ist.

Man muss sich schon Sorge tragen.
Ja, unbedingt. Sich und allen anderen. Das lässt sich nicht trennen.

Patricia Purtschert ist Kulturwissenschaftlerin und Koleiterin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung an der Uni Bern.