Tigray: Risse im Frieden

Nr. 43 –

Seit bald einem Jahr ist der Bürgerkrieg im Norden Äthiopiens beendet. Doch weiterhin sind Teile von Tigray besetzt. Eine Reise durch ein versehrtes Gebiet, dessen Bewohner:innen der Ruhe nicht trauen wollen.

die Hand von Priester Melake Selam mit Notizen auf seiner Handfläche
Mit Notizen auf seiner Handfläche führt der Priester Melake Selam Buch über die Toten aus seinem Dorf.

Ein alter Mann sitzt vor einer kleinen Kirche, nebenan wächst auf den Feldern wieder goldenes Korn. Die Wände der Kirche sind mit kleinen Löchern übersät, sonst zeugt an diesem Morgen kaum noch etwas vom Krieg, der hier noch vor einem Jahr wütete. Der Mann umklammert ein kleines Holzkreuz; leise flüstert er die Namen der Toten: Zemichael, Tesfalem Asgedom, Negasi Berhane, Tafere Yibeyn …

Mit einem Kugelschreiber notiert er Zahlen auf seine linke Handfläche. «Am ersten Tag», sagt er, «starben vier Menschen. Am nächsten Tag elf. Dann neunzehn, dann neun, dann achtzehn. Die fremden Soldaten erschossen junge Männer, aber auch Frauen, Kinder und Alte.» Sein Blick wandert über die Felder zur gelb verputzten Wand der Kirche. Das Böse, sagt er, sei aus dem Nichts gekommen. Es habe unerwartet begonnen. Wie ein dunkles Grollen, das über das Land rollt.

Melake Selam steht zwischen Sträuchern
Als die Mörder kamen, hat Melake Selam sich tagelang versteckt.

Melake Selam, ein hagerer Mann in zerrissener Nadelstreifenhose und einem lila Jackett, ist der Priester des Dorfes Mariam Shewito. Er hat mit vielen der Opfer gebetet, mit ihnen die Bibel gelesen, sie getauft, ihnen seinen Segen gegeben. 61 Menschen starben hier in den ersten fünf Tagen des Massakers, das am 25. Oktober 2022 begann, Hunderte in den umliegenden Dörfern. «Wie sollen wir das jemals vergessen?»

Der Krieg zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) war einer der blutigsten dieses Jahrhunderts. Schätzungsweise 600 000 Menschen starben innerhalb von zwei Jahren. Tigray, die nördlichste Region von Äthiopien, so gross wie die Schweiz, wurde verwüstet. Zehntausende Frauen wurden vergewaltigt, Millionen Menschen mussten wegen einer von der äthiopischen Regierung verhängten Blockade hungern. Im November letzten Jahres schlossen die Konfliktparteien Frieden.

Die äthiopische Regierung erlaubt es Journalist:innen bis heute nicht, in das Gebiet zu reisen. Trotzdem gelang es uns, zehn Tage lang verdeckt in der Region zu recherchieren. Ein Jahr nach dem Friedensabkommen kehrt langsam der Alltag zurück. Doch der Schock des Krieges sitzt noch immer tief.

Immer noch teilweise besetzt

Karte von Sudan, Äthiopien und Eritrea mit den Konfliktgebieten
Quelle: Ethiopia Watch, Bericht voM Juli 2023, Karte: WOZ

Plündern, stehlen, niederbrennen

Das Dorf Mariam Shewito liegt in einem kleinen Tal, an dessen Ende spitze Felsmassive in den Himmel ragen, knapp 170 Kilometer nordwestlich der tigrayischen Hauptstadt Mekele. An diesem Morgen führt Priester Selam über den Friedhof neben der Kirche. Nur das regelmässige Klacken seines Gehstocks ist zu hören. Er läuft über einen kleinen Pfad, kämpft sich durch dichte, wild wuchernde Sträucher. Auf beiden Seiten ragen Grabsteine aus dem Boden.

Während zweier Jahre sei der Krieg an seinem Dorf nahezu vorbeigegangen, erzählt Selam. Monatelang wurde in der Umgebung gekämpft. Selam hatte das Donnern der Granaten in der Ferne gehört, dann die näher rückenden Schüsse der Gewehre. Am 25. Oktober 2022 – dem Tag, an dem die Afrikanische Union den Beginn der Friedensverhandlungen verkündete – erreichte der Krieg auch Mariam Shewito.

Während Vertreter der TPLF im südafrikanischen Pretoria mit der äthiopischen Regierung verhandelten, drangen eritreische Soldat:innen ins Dorf ein. Seit Beginn des Krieges hatte die Armee des Nachbarlands Eritrea an der Seite der äthiopischen Regierung gekämpft (vgl. «Die Macht der Milizen» im Anschluss an diesen Text). Die Soldaten zogen von Haus zu Haus, plünderten Vorräte, stahlen Kühe und Saatgut, vergewaltigten Frauen. Dann brannten sie die Häuser nieder. Selam erinnert sich, wie einer der Soldaten schrie: «Bald kontrollieren wir ganz Tigray!» Der Priester beobachtete, wie sie einen Nachbarsjungen aus dem Haus zerrten und erschossen. In der Nacht floh Selam in ein Nachbardorf.

«Hier liegt einer unserer Priester.» Selam zeigt mit seinem Gehstock auf einen von Gebüsch verdeckten Grabstein. «Hier liegt mein Nachbar Negash. Hier Michael, der Sohn meines Bruders. Hier mein Nachbar Berhane.» Ein paar Meter weiter, unter einem Weidenbaum, zwischen wilder Minze und Rosmarin, bleibt er stehen. «Und hier liegt Hargos, mein Sohn», sagt er leise.

Angehörige trauern um gefallene tigrayische Kämpferinnen und Kämpfer
Angehörige trauern um gefallene tigrayische Kämpferinnen und Kämpfer.

Sieben Tage dauerte das Massaker. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International berichteten später von dem Kriegsverbrechen. Auf Satellitenbildern sind die eritreischen Fahrzeuge im Dorf zu sehen.

Als am 2. November 2022 in Pretoria der Frieden besiegelt wurde und der eritreische Konvoi das Dorf verliess, lagen die Toten noch immer auf den Strassen. Selam fand seinen Sohn wenige Meter neben seinem Haus. Der Veterinärstudent starb mit nur 23 Jahren. «Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, damit er studieren konnte», sagt Selam. Hyänen hätten bereits begonnen, das Fleisch von den Knochen zu reissen. Manche Familien hätten ihre Toten nur noch anhand der Kleidung erkennen können.

Mit dem Kriegsende hörte das Leid nicht auf. «Unsere Felder waren von Panzern und Granaten zerstört worden, unsere Vorratskammern waren leer», sagt Selam. Zwei Jahre lang hatte die äthiopische Regierung die Region mit einer Blockade ausgehungert. Bis heute fehle es im Dorf an Nahrung; viele könnten noch immer nicht alle Felder bestellen, weil ihnen das Saatgut fehle.

Selam zweifelt an der Friedensvereinbarung, die vor einem Jahr unterzeichnet wurde. Zwar herrsche nun Ruhe, doch die Angst sei noch immer gross. «Die Eritreer könnten jederzeit wiederkommen. Was ist das für ein Frieden, wenn sie noch immer unser Land besetzen?» Er sei bereit zu vergeben, wenn die Täter ihn darum bäten. Doch er bezweifelt, dass sie es tun werden.

Friedensprozess ohne Aufarbeitung

Geschichten wie die von Melake Selam werden in diesen Tagen in Tigray vielerorts erzählt. Auf der Fahrt durch die Region erinnern nur vereinzelte zerstörte Fabriken, Spitäler und Schulen an den Schrecken des Krieges. Doch die Geschichten der Menschen, ob in Städten oder Dörfern, gleichen sich: Sie berichten von Hinrichtungen, Massakern und Vergewaltigungen.

Internationale Beobachter:innen zweifeln angesichts des Ausmasses der Gewalt daran, dass es in naher Zukunft eine wirkliche Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsparteien geben oder man die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen wird. Kjetil Tronvoll ist Ethnologe sowie Friedens- und Konfliktforscher am Oslo New University College, er forscht seit Jahrzehnten zu Äthiopien. Gräueltaten wie das Massaker in Mariam Shewito seien «sehr systematisch und gezielt» gegen die Zivilbevölkerung gerichtet gewesen. Es sei Sache des Internationalen Gerichtshofs, darüber zu urteilen, sagt Tronvoll, aber angesichts der gezielten Absicht, die Tigrayer:innen zu vernichten, müsse man von einem Genozid sprechen.

Im Friedensprozess spielt die Aufarbeitung bisher kaum eine Rolle. Die äthiopische Regierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed kündigte eine «Vergangenheitsbewältigung» an, ohne jedoch einen realistischen Plan vorzulegen. Auch in Tigray sind viele Menschen von der Regierung enttäuscht. Vor allem die Jungen sehen das Friedensabkommen als Kapitulation der TPLF und fühlen sich bei der Bewältigung der Kriegsfolgen im Stich gelassen. Bis heute können mehr als eine Million Tigrayer:innen nicht in ihre Heimatregionen zurückkehren, weil diese noch immer durch Milizen aus der Nachbarregion Amhara oder durch eritreische Soldat:innen besetzt sind.

An einem Nachmittag in der tigrayischen Hauptstadt Mekele. Zwanzig Frauen sitzen um einen runden Tisch in einem kleinen Konferenzsaal in einem Hotel. Von der Decke leuchtet oranges Neonlicht, die Luft ist stickig. Die Frauen haben Schleier vor ihre Gesichter gezogen. Die Runde ist eine Selbsthilfegruppe der Organisation Hewyet. Es geht darum, wie die traumatisierten Frauen im Alltag wieder Fuss fassen können. Alle von ihnen wurden missbraucht, manche wochenlang. Drei von ihnen haben die Kinder ihrer Peiniger zur Welt gebracht.

Portraitfoto von Meseret Hadush
«Eure Kinder trifft keine Schuld»: Meseret Hadush hilft mit der Organisation Hewyet traumatisierten Frauen.

«Seid stark», ruft Hewyet-Gründerin Meseret Hadush, eine kleine Frau mit kurzen Haaren, in den Raum. Ihre langen schwarz lackierten Fingernägel blitzen im Neonlicht. «Die Soldaten haben die Verbrechen begangen, nicht ihr. Eure Kinder trifft keine Schuld», sagt sie. «Vergesst das nie.»

Einen Moment lang ist es still. Dann zieht eine der Frauen ihren Schleier herunter. Sie trägt ein oranges Blümchenkleid. Ihre Hände zittern. «Ich bin hier, weil sich sonst niemand kümmert», sagt sie. Ihre Familie habe sie verstossen. Ihr Ehemann wolle sich von ihr scheiden lassen. Vor ein paar Tagen habe sie im Frauenbüro der Stadt um finanzielle Unterstützung gebeten. Doch die Beamten zweifelten an ihrer Geschichte, sie schickten sie weg. Eine Weile habe sie auf der Strasse gebettelt, mittlerweile habe sie Arbeit gefunden. Doch in ihrem Heimatort gebe es immer noch viele Frauen, deren Wunden bis heute bluteten. «Warum hilft uns keiner?» Sie weint.

3640 Frauen hat Hewyet seit Beginn des Krieges unterstützt. «Nur ein kleiner Tropfen auf den heissen Stein», sagt Gründerin Hadush. Sie geht von mehreren Hunderttausend Opfern aus; regionale Behörden sprechen von mindestens 120 000 Fällen sexueller Gewalt.

Kein Interesse an Aufklärung

Das eine, sagt Hadush, sei die unvorstellbare Brutalität, die die Frauen durch die Soldaten erfahren hätten. Viele seien über einen langen Zeitraum hinweg missbraucht worden. Das andere sei das gesellschaftliche Stigma, das auf den Opfern laste. Viele Frauen seien von ihren Familien oder Ehemännern verstossen worden. Die Menschen in Tigray würden das Thema vermeiden, um nicht an die Gewalt des Krieges erinnert zu werden, auch weil es nicht zur Kultur gehöre, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Es habe sich ein «kollektives Schweigen» etabliert. Im Friedensprozess müsste es auch darum gehen, einen «Kreislauf der Gewalt» zu verhindern, sagt Hadush. Denn ein dauerhaftes Schweigen könne in Zukunft zu erneuter Gewalt führen. Viele der Frauen fühlten sich mit ihren Erfahrungen nicht gehört. Nur wenn diese anerkannt und die Täter verurteilt würden, könne es einen dauerhaften Frieden geben.

Die ehemalige Musikerin Hadush gründete Hewyet wenige Monate nach Beginn des Krieges. Bis heute hat sie keine Unterstützung von den Behörden in Tigray erhalten. Der Grossteil der Spenden komme aus der Diaspora, sagt sie. Mit dem Geld ermögliche sie den Frauen, eigene Geschäfte zu eröffnen, um finanziell unabhängig zu werden. Mit ihrer Arbeit fühle sie sich alleingelassen. «Ich hoffe, dass wenigstens die internationale Gemeinschaft Druck auf die äthiopische Regierung oder die Verwaltung in Tigray ausüben wird.»

Die internationale Gemeinschaft war von Anfang an zurückhaltend. Während des Krieges konnten sich weder die Mitglieder der EU noch der Uno auf gemeinsame Sanktionen einigen. Zu einer Resolution des Uno-Sicherheitsrats kam es nicht, auch weil Russland und China ihr Veto einlegten. Eine im Friedensabkommen vorgesehene Untersuchungskommission der Afrikanischen Union wurde in diesem Sommer aufgelöst, ohne einen Abschlussbericht veröffentlicht zu haben.

«Es gibt international kein Interesse an einer Aufklärung», sagt Konfliktforscher Kjetil Tronvoll. Unter Diplomat:innen herrsche die naive und opportunistische Ansicht vor, dass es nicht sinnvoll sei, die Beziehungen zur äthiopischen Regierung mit Forderungen zu belasten, die ohnehin unrealistisch seien. Zudem hätten viele Staaten Angst, dass sie die Regierung in Addis Abeba mit zu viel Druck weiter in die Arme von China, Russland oder Saudi-Arabien trieben. «Äthiopien wird heute mehr denn je als ein Spielball internationaler Geopolitik gesehen.»

Die Suche nach juristischer Gerechtigkeit wird auch dadurch erschwert, dass weder Äthiopien noch Eritrea den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anerkennen. Gerichtsverfahren könnten also nur mit Unterstützung der äthiopischen Regierung stattfinden. Diese verweigerte jedoch bereits die Zusammenarbeit mit der während des Krieges von der Uno eingerichteten «Expertenkommission für Menschenrechte in Äthiopien», die Verbrechen aufklären und dokumentieren sollte. Die Regierung untersagte den Ermittler:innen, nach Tigray zu reisen. Das Mandat war bis zum 13. Oktober dieses Jahres befristet. Die Frist für eine Verlängerung lief antragslos aus; weder afrikanische noch europäische Diplomat:innen hatten sich dafür eingesetzt.

Noch einen Tag vor Ablauf der Frist hatte die Kommission vor dem hohen Risiko neuer Kriegsverbrechen gewarnt. Der Konflikt in Tigray sei angesichts der anhaltenden Besetzung einzelner Gebiete durch Milizen aus Amhara und die eritreische Armee nicht beendet, schrieben die Expert:innen. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch haben seit dem Friedensabkommen von Kriegsverbrechen und Zwangsvertreibungen berichtet.

Wie die Uno-Expert:innenkommission sieht Kjetil Tronvoll in der Wiederherstellung der «territorialen Integrität» der Region einen Schlüssel zum Frieden. Angesichts der anhaltenden eritreischen Besatzung stehe die äthiopische Regierung jedoch vor einer äusserst schwierigen Aufgabe: «Abiy Ahmed hat kaum eine andere Wahl, als mit Eritrea diplomatisch zu verhandeln, wenn er nicht einen neuen Krieg auslösen will.»

Drei Tage unter dem Kaktus

Die Grenze, an der sich der brüchige Frieden messen lässt, verläuft durch ein kleines Tal, knapp 160 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Mekele. Schon von weitem sind die Konturen der silbernen Wellblechdächer der Kleinstadt Dawhan zu sehen, die sich aus der beige-grünen Landschaft schälen.

Es ist die letzte Station vor jenem Teil von Tigray, der bis heute von eritreischen Soldat:innen besetzt ist. Knapp 5000 Menschen leben hier, die meisten von ihnen gehören zur Irob-Gemeinde, einer kleinen katholischen Minderheit im ansonsten christlich-orthodox geprägten Äthiopien. Eine Strasse schlängelt sich durchs Tal, hinter dem eine zerklüftete Berglandschaft liegt. Dahinter, nur zwei Kilometer von Dawhan entfernt, stehen die eritreischen Soldat:innen.

Seit dem eritreisch-äthiopischen Krieg von 1998 bis 2000 sind die Grenzgebiete zwischen Eritrea und Äthiopien umstritten. Damals wurde die Grenze durch eine Uno-Resolution festgelegt. Als im November 2020 der Krieg in Tigray ausbrach, nutzte der eritreische Diktator Isaias Afewerki die Gelegenheit und besetzte die Gebiete, die zuvor von der Kommission als äthiopisch eingestuft worden waren und unter der Verwaltung von Tigray standen. Zehntausende Bewohner:innen sind durch die Besetzung bis heute von ihrer Heimatregion Tigray abgeschnitten.

Mitglieder der lokalen Polizei bewachen den Zugang zur Stadt Dawhan
Mitglieder der lokalen Polizei bewachen den Zugang zur Stadt Dawhan. Weil eritreische Soldat:innen in der Nähe die Strasse blockieren, ist sie aber nur über Bergpfade sicher zu erreichen.

In Dawhan sitzt eine Frau am Rand eines kleinen Kaffeeladens auf einem weissen Plastikstuhl. Sie hat die Schama, das traditionelle weisse äthiopische Tuch, fest um den Kopf gewickelt. «Wenn die eritreischen Soldaten wüssten, dass ich hier bin, wäre meine Familie in grosser Gefahr», sagt Tsega Negus, deren richtiger Name aus Sicherheitsgründen nicht in diesem Text stehen darf. Die 27-Jährige lebt etwa zehn Kilometer entfernt im Dorf Kafna, sie spricht mit leiser Stimme. Manchmal, sagt sie, seien die Soldaten, die die Grenze kontrollieren, unaufmerksam. Sie hatte Glück, als sie an diesem Morgen in der Dämmerung in Kafna aufbrach, um sechs Stunden einen Bachlauf entlang durch die kahle Berglandschaft zu laufen, die gleissende Sonne über ihr. Immer mit der Angst, entdeckt, verfolgt und bestraft zu werden.

Bis zum Krieg sei ihr Dorf unter tigrayischer Verwaltung gewesen. Dann kamen eritreische Soldaten. Drei Tage versteckte sie sich mit ihren fünf Kindern unter einer Kaktuspflanze ausserhalb des Dorfes. «Sie töteten vor allem junge Männer», erzählt Negus, sie hätten auch Frauen vergewaltigt. Mit dem Ende des Krieges habe sich die Situation zwar beruhigt, doch die Angst sei immer noch gross. Heute gelte in der Region ein Versammlungsverbot. Kirchen und Schulen seien geschlossen. Erst kürzlich sei eine Gruppe junger Männer fast zu Tode geprügelt worden, weil sie Fussball gespielt hätten.

«Sie sagen uns, dass wir jetzt keine Tigrayer:innen mehr seien und wir unsere Kultur vergessen sollten», sagt Negus. «Sie hassen und fürchten uns gleichermassen.»

Es gebe kaum Lebensmittel; viele Menschen litten an Unterernährung. Einmal in der Woche laufe sie deshalb heimlich aus dem besetzten Kafna nach Dawhan, um etwas zu essen zu kaufen oder die Bibelschule zu besuchen. Sechs Stunden hin, sechs Stunden zurück. «Ich habe fünf Kinder, wir haben keine andere Wahl», sagt sie und zuckt mit den Achseln.

Bürgermeister Eyasou Misgna
Aus Angst vor eritreischen Truppen arbeitet Bürgermeister Eyasou Misgna nicht im Verwaltungsgebäude von Dawhan.

Zwei Strassen führen aus der tigrayischen Metropole Adigrat nach Dawhan. Nur eine davon ist befestigt – und sie liegt teilweise im besetzten Gebiet. Eritreische Soldat:innen kontrollierten sie seit Monaten und blockierten den Weg für Hilfsgüter, erzählt Eyasou Misgna, der Bürgermeister von Dawhan. Über die befestigte Strasse dauere die Fahrt nach Adigrat eine knappe Stunde, über die zweite, eine schwierig befahrbare Schotterpiste durch die Berge, dauere sie fast sieben Stunden.

Erst gestern sei eine Patrouille eritreischer Soldat:innen nur wenige Hundert Meter entfernt an der Stadt vorbeimarschiert. «Die beobachten uns ganz genau», sagt Misgna. Er traue sich deshalb nicht mehr, im Verwaltungsgebäude zu arbeiten. Zu nah liege dieses an der Route der Soldat:innen. Und auch die Kirche der Stadt werde nicht mehr besucht, erzählt er. «Wenn die Soldaten wollen, können sie innerhalb weniger Minuten alles einnehmen.»

Die äthiopische Armee, die seit dem Friedensabkommen für den Schutz von Tigray garantieren sollte, sei schon lange nicht mehr im Ort gewesen, sagt der Bürgermeister. Nur ein paar tigrayische Polizist:innen seien noch hier. «Aber was können die schon gegen die Armee ausrichten?» Eyasou Misgna ist sich sicher: Irgendwann werde Eritrea wieder angreifen.

Und auch Tsega Negus bezweifelt, dass der Frieden von Dauer sein wird. Kurz vor Mittag steht sie auf einem kleinen Hügel am Rand der Stadt. «Wie kann es Frieden geben, wenn wir nicht mehr in dem Land leben, in dem wir geboren wurden?» Dann läuft sie mit schnellen Schritten den Bergen entgegen.

Diese Recherche wurde durch den Medienfonds von «real21 – die Welt verstehen» ermöglicht.

Äthiopien : Die Macht der Milizen

In Äthiopien leben über 120 Millionen Menschen, die mehr als achtzig verschiedenen Bevölkerungsgruppen angehören. Und obwohl in der Region Tigray lediglich etwa sechs Prozent der Gesamtbevölkerung leben, hat die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) jahrzehntelang die föderalistische Politik Äthiopiens dominiert: Nach dem Sturz der Militärjunta im Jahr 1991 hatte die einstige Guerillabewegung die Kontrolle über zentrale Positionen in Politik, Wirtschaft und Militär erlangt und regierte mit strenger Hand.

Im Frühling 2018 gelang dem jungen Politiker Abiy Ahmed aus dem Bundesstaat Oromia der Aufstieg ins Amt des Premierministers. Nach jahrelangen Protesten im ganzen Land versprach er Reformen und Demokratie – und setzte auf nationale Einheit anstelle regionaler Selbstverwaltung. Bald schloss Abiy einen Friedensvertrag mit Eritrea ab, wofür er 2019 den Friedensnobelpreis erhielt. Gleichzeitig wuchs die Kritik an ihm. Vor allem innerhalb der TPLF erhielten Unabhängigkeitsforderungen Auftrieb.

Als Abiy im Sommer 2020 die nationalen Wahlen aufgrund der Covid-Pandemie verschob, hielt die TPLF in der Region Tigray trotzdem Wahlen ab, die sie mit überwältigender Mehrheit gewann. Als sich die politische Situation laufend zuspitzte, nahmen TPLF-Milizen Anfang November 2020 mehrere Militärstützpunkte in der Region ein, worauf eine Offensive der äthiopischen Streitkräfte folgte. Ein äusserst brutaler Krieg nahm seinen Lauf, inklusive einer rigiden Blockade Tigrays durch die Regierungstruppen.

Unterstützung erhielt Abiy von eritreischen Truppen und Milizen aus der Region Amhara. Für den eritreischen Diktator Isaias Afewerki ist die TPLF seit dem äthiopisch-eritreischen Krieg von 1998 bis 2000 ein Erzfeind; der Bundesstaat Amhara erhebt seit Jahrzehnten Anspruch auf Gebiete im westlichen Tigray.

Das Bündnis brachte rasch einen Grossteil der Region unter seine Kontrolle. Im Sommer 2021 eroberten tigrayische Truppen viele Gebiete zurück und marschierten in benachbarte Regionen ein. Von Anfang an wurde der Krieg von Meldungen über schrecklichste Kriegsverbrechen begleitet: Gemäss Uno-Berichten sollen vor allem eritreische Truppen und amharische Milizen, aber in mutmasslich geringerem Ausmass auch tigrayische Soldaten solche verübt haben.

Am 2. November 2022 unterzeichneten die TPLF und die äthiopische Regierung ein Friedensabkommen, das eine Aufhebung der Blockade und eine Demobilisierung der tigrayischen Milizen vorsah und Tigray gleichzeitig territoriale Integrität zusicherte (siehe WOZ Nr. 45/22). Bis heute sind aber Gebiete im Westen und Norden der Region von amharischen Milizen und eritreischen Truppen besetzt. Beide waren an den Friedensverhandlungen nicht beteiligt.  

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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