Durch den Monat mit Adèle Villiger (teil 3): Was haben Sie am Gymnasium erlebt?

Nr. 7 –

Migrantische Kinder werden an Schweizer Schulen oft benachteiligt, ist Adèle Villiger überzeugt. Um dies zu ändern, müsse man nicht nur die Lehrer:innen, sondern auch die Eltern in die Pflicht nehmen.

Adèle Villiger: «Ein Lehrer hat jede Gelegenheit genutzt, mir zu vermitteln, dass ich am Gymnasium fehl am Platz sei – bis ich es irgendwann verinnerlicht hatte.»

WOZ: Frau Villiger, Sie sagten, Ihre Kooperative Flexifeen bestehe vorwiegend aus Frauen, die nicht viele Chancen in dieser Gesellschaft erhalten …
Adèle Villiger: Ja, Chancengleichheit ist ein Thema, das mich stark umtreibt. Es fängt ja schon in der Kindheit an. So werden dunkelhäutige und migrantische Kinder etwa in der Schule nicht gleich gefördert wie die Kinder weisser Schweizer Eltern. Wenn sie niemanden hinter sich haben, der sich für sie einsetzt, landet schnell mal ein Kind in einer Lehre, das auch das Potenzial für die Uni gehabt hätte.

Haben Sie selbst solche Erfahrungen gemacht?
Als ich als Mädchen von Kamerun in die Schweiz kam, musste ich in erster Linie ganz schnell Deutsch lernen. Nach einem Jahr konnte ich dann schon aufs Gymnasium, worauf ich sehr stolz war. Leider hatte ich dort einen Lehrer, dem es nicht passte, dass ich da war, der mir ständig sagte, ich solle doch lieber die Hauswirtschaftsschule machen, dass ich nicht gut genug sei fürs Gymnasium. Als ich in einem Schultheater einen Gesangsauftritt hatte, kam er anschliessend zu mir und sagte: «Sehen Sie, Frau Villiger, Sie können ja doch etwas. Konzentrieren Sie sich lieber aufs Singen.» In den Prüfungen korrigierte er vor allem meine Deutschfehler. Ich habe wirklich sehr unter ihm gelitten.

Waren alle Lehrpersonen so?
Nein. Einer anderen Lehrerin war es etwa viel wichtiger, dass ich den Stoff inhaltlich verstand, und sie hatte Verständnis dafür, dass ich gerade erst Deutsch gelernt hatte. Andere Lehrpersonen waren ebenfalls toll. Doch der eine Lehrer hat jede Gelegenheit genutzt, mir zu vermitteln, dass ich am Gymnasium fehl am Platz sei. Das hat er so oft wiederholt, bis ich es irgendwann verinnerlicht hatte. Diese Art, mit mir umzugehen, hatte einen nachhaltigen Einfluss auf mein Leben.

Denken Sie, das hat auch dazu beigetragen, dass Sie nach der Geburt Ihrer Tochter die Matura nicht nachgeholt haben?
Das war auf jeden Fall so. Die mündlichen Maturaprüfungen habe ich ja noch gemacht und bestanden. Aber die Angst vor den schriftlichen, zusammen mit meiner Schwangerschaft, die für mich etwas ganz Neues war – das war zu viel für mich. Ich stand völlig alleine da mit dieser Situation.

Bekamen Sie keine Unterstützung von Ihren Eltern?
Leider nein. Ihnen fehlte das Bewusstsein dafür, was hier schieflief. Umso wichtiger war es mir, mich für meine Kinder einzusetzen, als sie ähnliche Erfahrungen machten.

Wie erging es Ihren Kindern?
Im Fall meiner Tochter gab es ebenfalls eine Lehrperson, die immer etwas an ihr auszusetzen hatte und ihr Steine in den Weg legte, als es um die Versetzung ans Gymnasium ging. Dabei war sie stets fleissig und ist dreisprachig aufgewachsen: mit Deutsch, Englisch, Französisch. Nach einer Lehrerkonferenz kam eine Lehrerin mit ausländischen Wurzeln auf mich zu und sagte mir, dass meine Tochter ihrer Meinung nach zu tief eingestuft wurde, obwohl das Potenzial da war. Also sprach ich mit den zuständigen Lehrpersonen. Ich wollte unbedingt verhindern, dass sich mein Schicksal bei ihr wiederholt. Das Selbstvertrauen meiner Tochter war stark verletzt, und es war ein Rieseneffort, sie wieder zum Lernen zu motivieren, denn sie hatte die Hoffnung bereits aufgegeben. Aber am Ende hat es dann geklappt.

Und wie ging es für Ihre Tochter am Gymnasium weiter?
Ab dann lief es gut. Es war, als hätte ich eine Kette zerbrochen. Heute studiert sie Pharmazie. In meinem Umfeld, in der afrikanischen Community, ernte ich viel Erstaunen, wenn ich das erzähle. Es gibt in der Schweiz noch zu wenig afrikanischstämmige Studierende, geschweige denn Ärztinnen und Ärzte.

Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?
Es wäre sicher schon einmal wichtig, dieses Problem des latenten Rassismus überhaupt anzuerkennen und zu benennen. Viele sind sich dessen gar nicht bewusst. Man müsste wohl auch bei der Bildung der Lehrkräfte und der Gesellschaft im Allgemeinen ansetzen, um sie für die Herausforderungen migrantischer Kinder zu sensibilisieren, die zwar oft hier geboren sind, deren Familien aber sowieso schon mit vielen Hindernissen in der Gesellschaft zu kämpfen haben. Aber man muss auch die Eltern in die Verantwortung nehmen, viele setzen sich zu wenig für ihre Kinder ein.

Woran liegt das?
Ich denke, in erster Linie an fehlendem Wissen. Ich bin christlich erzogen worden, und es gibt ein Bibelzitat: «My people have perished for lack of knowledge.» Also etwa: Mein Volk ging zugrunde aus Mangel an Wissen. Manche denken wohl, dass es schon seine Richtigkeit hat, wenn der Lehrer etwas sagt. Andere kennen ihre Rechte nicht oder trauen sich nicht zu protestieren. Die Sprache kann natürlich auch ein grosses Hindernis sein. Ich wünschte, ich hätte eine grössere Plattform, um für dieses Thema zu sensibilisieren. Denn es muss sich etwas ändern. Es sollte nicht so sein, dass meine Tochter als Seltenheit gilt, nur weil sie studiert.

Adèle Villiger (42) hat in Basel mit acht anderen Migrantinnen Flexifeen gegründet, die erste Kooperative für Reinigung und Alltagshilfe. Zusammen mit ihrer Tochter nahm sie auch an den Black-Lives-Matter-Protesten in Basel teil.