Durch den Monat mit Adèle Villiger (Teil 2): Wer kann bei Ihrer Kooperative mitmachen?
Adèle Villiger erzählt von diskriminierenden Erfahrungen bei der Arbeitssuche und davon, wie es ist, Angestellte und Chefin zugleich zu sein.
WOZ: Frau Villiger, die Flexifeen bieten nicht nur Reinigung, sondern auch Alltagshilfe an. Was kann man sich darunter vorstellen?
Adèle Villiger: Wir richten uns mit diesem Angebot insbesondere an Seniorinnen und Senioren oder Familien, aber wir kommen zu allen, die unsere Unterstützung brauchen können. Wir gehen einkaufen oder auf die Post, begleiten Leute auf Spaziergängen oder zu Terminen. Ich habe das früher schon einmal gemacht, das war eine prägende Erfahrung für mich.
Wen haben Sie da begleitet?
Ich habe für die Mutter von Freunden eingekauft und gekocht, sie gebadet … Ich war da, um zu helfen, aber ich bekam unglaublich viel zurück. Ich habe viel von dieser alten Frau gelernt. Es berührt mich sehr, wenn ich daran zurückdenke, wie nah wir uns waren. Sie hat mich auch immer aufgemuntert, wenn ich wegen meiner Arbeitslosigkeit verzweifelt war, und gesagt: «Adèle, mach doch eine Ausbildung in diesem Bereich, du machst das so gut.» Da wusste ich noch nicht, dass ich einmal bei Flexifeen genau diese Arbeit machen würde.
Letzte Woche haben Sie erzählt, dass so viele Anfragen bei Flexifeen reinkommen, dass Sie sich wohl bald einmal nach neuen Mitgliedern umschauen müssten. Wer kann bei Ihrer Kooperative mitmachen?
Alle Frauen, die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Unser Fokus liegt auf migrantischen Frauen, die trotz ihrer grossen Kompetenzen keinen Job finden.
Sie haben selbst eine Migrationsbiografie und waren auch längere Zeit arbeitslos.
Ich lebe in Basel, seit ich zehn Jahre alt bin, und habe hier das Gymnasium besucht. Drei Monate vor der Matura habe ich die Schule abgebrochen, weil ich schwanger war, und habe dann als Sekretärin für eine Callcenterfirma mit internationalen Kunden gearbeitet. Meine Sprachkenntnisse waren mir sehr nützlich. Ich war von Anfang an alleinerziehend, und als ich nach der Geburt meiner Tochter keinen Krippenplatz fand, verlor ich diese Stelle. Dann habe ich unter anderem im Duty-free-Shop am Flughafen Basel-Mulhouse im Verkauf gearbeitet. Richtig schwierig wurde es aber nach der Geburt meines zweiten Kindes.
Was ist passiert?
Mein Sohn hatte gesundheitliche Probleme und musste in den ersten Lebensjahren mehrmals operiert werden. Ich blieb sechs Jahre zu Hause, um mich um ihn zu kümmern. Heute geht es ihm glücklicherweise gut. Diese sechs Jahre haben mich jedoch viel gekostet. Man sagte mir immer, dass ich zu lange zu Hause geblieben sei. Dann dachte ich: Es kann doch nicht sein, dass ich mein ganzes Leben von der Sozialhilfe lebe, weil ich keinen Babysitter für meine Kinder habe.
Sie konnten keine Stelle mehr finden?
Ich habe leider viele diskriminierende Erfahrungen gemacht. Obwohl ich seit meiner Kindheit in der Schweiz lebe und einen Schweizer Pass habe, stosse ich auf ganz ähnliche Schwierigkeiten wie meine Kolleginnen bei Flexifeen, die zum Teil erst seit wenigen Jahren hier sind. Ich heisse Villiger, das ist der Name meines Adoptivvaters, ein typischer Schweizer Name, am Telefon hört man, dass ich gepflegtes Deutsch spreche. Aber wenn ich dann zum Bewerbungsgespräch kam, wurde ich oft ganz erstaunt angeschaut: «Sind Sie wirklich Frau Villiger?» Sie hatten nicht mit einer dunkelhäutigen Frau gerechnet – und hatten dann auch an meiner Bewerbung kein Interesse mehr.
Wie begegnen Ihnen die Kund:innen heute bei Flexifeen?
Das Besondere am Kooperativenmodell ist ja, dass wir Arbeitnehmer und Arbeitgeber zugleich sind. Ich bin kürzlich für eine Kollegin eingesprungen, und die Kundin war erstaunt, weil sie jemand anders erwartet hatte. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich die Präsidentin von Flexifeen bin. Da veränderte sich ihre Mimik sofort. Es schafft Vertrauen, wenn die Leute wissen: Der Boss ist da. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, dass ich Präsidentin bin. Wir sind alle gleichgestellt. Wenn jemand von uns für eine Reinigung vorbeikommt, ist immer eine Inhaberin unserer Firma vor Ort.
Sie bestimmen also auch selbst über Ihre Arbeitsbedingungen.
Ja, uns war es etwa wichtig, dass wir gut versichert sind, eine gute Altersvorsorge haben und auch im Krankheitsfall bezahlt werden. Wir möchten zudem gerne beeinflussen, dass sich die Löhne in der Branche verbessern. Diese Arbeit ist so anstrengend – und völlig unterbezahlt. Wir mussten jedoch schauen, dass wir nicht allzu hohe Sätze verlangen, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Wie viel bezahle ich als Flexifeen-Kundin?
Unser Ansatz liegt bei 41 bis 50 Franken pro Stunde. Davon zahlen wir 29.77 Franken brutto uns selbst aus. Der Rest geht an die Kooperative, wir haben ja auch noch einige Rechnungen zu begleichen. Die ersten drei Jahre werden wir vom Verein Crescenda gecoacht und begleitet. Unser Ziel ist es, nach dieser Zeit auf eigenen Beinen zu stehen – auch finanziell. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen.
Adèle Villiger (42) spricht neben Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch auch die kamerunischen Sprachen Manguissa und Bagangté. Der Basler Verein Crescenda unterstützt Migrantinnen beim Berufseinstieg sowie bei der Gründung von Kleinstunternehmen und Kooperativen.