Durch den Monat mit Adèle Villiger (Teil 4): Wie hat sich das Gundeli verändert?

Nr. 8 –

Das Quartier Gundeldingen hinter dem Basler Bahnhof funktioniert fast wie eine eigene kleine Stadt in der Stadt. Adèle Villiger wohnt seit zwanzig Jahren dort. Sie erzählt vom Quartierleben und ihren Kindheitserinnerungen an den Morgestraich.

Adèle Villiger: «Das Quartier ist auf eine Weise einladender, lebendiger und weltoffener geworden. Auf der anderen Seite vermisse ich die Ruhe.»

WOZ: Frau Villiger, in etwa zehn Tagen beginnt in Basel die Fasnacht. Hat dieser Anlass eine Bedeutung für Sie?
Adèle Villiger: Als Kind fand ich die Fasnacht sehr spannend. Meine Eltern haben mich mehrmals zum Morgestraich mitgenommen, ich stand immer weit hinten und war zu klein, um zu sehen, was vorne überhaupt passiert. Es hatte für mich immer etwas Mysteriöses. Bis heute eigentlich. Später bin ich dann mit meinen Kindern zum Bonbonssammeln an die Cortèges, die Umzüge, gegangen und am Dienstag an die Kinderfasnacht. Das war immer sehr lustig.

Werden Sie auch dieses Jahr hingehen?
Das weiss ich noch nicht. Meine Kinder sind jetzt schon gross, und in letzter Zeit war die Fasnacht nicht mehr so interessant für mich. Man hat immer die gleiche Musik in den Ohren.

Dann hat es Sie also nicht gestört, als die Fasnacht letztes Jahr wegen Corona ausgefallen ist?
Doch, das fand ich sehr schade. Es hat etwas Grosses gefehlt in jenem Jahr, Basel war nicht Basel ohne Fasnacht. Sie gehört zur Identität dieser Stadt. Auch wenn ich kein Fasnachtsmensch bin, habe ich grossen Respekt für diese Tradition, die mit vielen Emotionen verbunden ist. Das ist für mich immer eindrücklich mitzuerleben. Egal ob man hingeht oder nicht, herrscht an diesen Tagen in der ganzen Stadt eine ganz andere Atmosphäre.

Sie wohnen seit mehr als zwanzig Jahren im Gundeli, direkt hinter dem Bahnhof. Das Quartier ist aufgrund seiner Lage wie eine kleine Stadt für sich. Wie hat sich das Quartier in dieser Zeit verändert?
Ich habe meine erste eigene Wohnung im Gundeli gefunden. Ich bin damals hierhergezogen, weil es ein familienfreundliches Quartier war – anders als etwa Kleinhüningen – und weil es schön ruhig war. Doch es hat sich sehr viel verändert in dieser Zeit. Das Gundeli ist sehr kulinarisch geworden, es sind wahnsinnig viele Restaurants aufgegangen, viele Expats aus ganz verschiedenen Ländern essen hier zu Mittag. Das Quartier ist auf eine Weise einladender, lebendiger und weltoffener geworden. Auf der anderen Seite vermisse ich die Ruhe. Früher konnte man einfach auf einem Bänkli sitzen und die Sonne geniessen. Heute muss ich durch ein Strassencafé hindurch laufen, um im Coop einkaufen zu können.

Wie wirkt sich das auf das Zusammenleben im Quartier aus?
Früher haben wir uns oft auf der Strasse getroffen, unsere Kinder haben zusammen draussen gespielt. Mit all den Restaurants ist der Platz viel knapper geworden, man begegnet sich nicht mehr einfach so, bleibt kaum mehr stehen, um sich ein bisschen zu unterhalten. Das fehlt mir. Aber vielleicht sind wir auch einfach alle zu beschäftigt …

Schlägt sich diese Entwicklung des Gundeli auch in den Mieten nieder?
Die Mietzinse sind ein grosses Thema. Ich bezahle einiges mehr für meine Wohnung als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wir wohnen zu dritt in einer 3,5-Zimmer-Wohnung und hätten gerne etwas mehr Platz. Aber es ist so schwierig, im Gundeli eine bezahlbare Wohnung zu finden, dass ich die Suche mittlerweile aufgegeben habe.

Haben Sie einen Lieblingsort in Basel?
Ich gehe sehr gerne auf das Bruderholz, es liegt so schön in der Natur. Ich hatte dort früher auch mal einen Schrebergarten. Ich bin in Kamerun in einem kleinen Dorf aufgewachsen, mit viel Kontakt zur Erde, und ich hatte dieses Bedürfnis auch hier. Aber es gab schrecklich viele Regeln zu beachten, das hat mir den ganzen Spass am Gärtnern verdorben. Das war gar nicht lustig. Jetzt gehe ich im Sommer oft dort spazieren, auch wenn ich keinen Garten mehr habe, das tut mir sehr gut.

Sie singen auch sehr gerne. Was bedeutet Ihnen die Musik?
Die Musik ist mir sehr wichtig, seit ich Kind war. Vor Corona war ich eine Zeit lang mit einer Gospelgruppe unterwegs, wir sangen an Taufen, Hochzeiten oder auch an Firmenanlässen. Es ist ein schönes Gefühl, mit meinem Gesang das Publikum zu berühren und Emotionen auszulösen. Das habe ich auch bei der Lancierung von Flexifeen wieder gemerkt: Als ich vor all den Leuten, die gekommen sind, meinen Pitch präsentierte, war das etwas schwierig für mich. Aber als ich auf der Bühne singen konnte, war ich ein komplett anderer Mensch. In der Musik fühle ich mich am sichersten.

Apropos Flexifeen: Was war Ihr letzter Auftrag?
Gerade kürzlich war ich bei einer ganz wunderbaren Kundin. Viele Leute sind nicht zu Hause, wenn ich komme, um die Wohnung zu putzen, und wenn sie doch da sind, gibt es kaum einen Austausch. Das war bei dieser Frau ganz anders, wir sassen beieinander und hatten ein schönes Gespräch. Ich bin sehr froh, dass ich den Verein Crescenda gefunden habe, mit dessen Hilfe wir unsere Kooperative Flexifeen aufbauen konnten. Sie ermöglicht mir nicht nur solche wertvollen Begegnungen, sondern eine selbstbestimmte Arbeitsstelle, wo ich all meine Kompetenzen einbringen kann. Deshalb bedeutet die Kooperative für mich: Ich bin endlich angekommen.

Adèle Villiger (42) ist Präsidentin von Flexifeen. Die Kooperative wird zurzeit geradezu überhäuft mit Anfragen und wird wohl bald nach neuen Mitarbeiterinnen Ausschau halten.