Erwachet!: Was weiss ich schon
Michelle Steinbeck fehlen die Worte
In den letzten Tagen sind Worte unheimlich geworden. Befremdlich die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Wörter nun zirkulieren; Kriegsvokabular. Fachsimpeln über militärische Operationen, als spielten wir «Risiko, das grosse Strategiespiel».
Was steht wohl auf Wladimir Putins Missionskarte? «Befreien Sie Europa und einen weiteren Kontinent Ihrer Wahl.» Die Spielanleitung kennt er auswendig: «Es geht darum, Gebiet für Gebiet die Welt zu erobern. Es ist aufregend. Es ist unberechenbar. Darum macht es ja auch so viel Spass.» Wladimir hat im Lockdown täglich gegen sich selber gespielt: seine Einheiten aufgestellt und sich zum Weltbefreier gewürfelt. Leider hat er sich selber aus der Isolation entlassen. Und die kleinen Plastikkanonen gegen Atomraketen eingetauscht.
Berichte, Liveticker, Aufrufe, Prognosen. Je mehr ich lese über den laufenden Krieg, desto ungeheurer werden mir Worte. Lügen, Floskeln, Erklärungen. Sie behaupten einen Sinn, eine Wahrheit. Sie geben vor, Abbild der Wirklichkeit zu sein, dabei verschleiern sie Leid und Grauen durch Abstraktion. Sie schüren Angst und Hass. Und immer wieder Sprachlosigkeit – bei jenen, die sich dem Duktus des Krieges entziehen wollen. Nicht dem Pathos verfallen, den erschlagenden Wörtern aus Geschichtsbüchern; scheinbar aus der Zeit gefallen, wirken sie deformiert. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben, mich nicht an sie gewöhnen.
Diese Verweigerung kommt mir feige vor, schliesslich ist der Krieg jetzt geschehende Realität. (Wohlgemerkt nicht der erste und einzige meiner Zeit.) Gleichzeitig spüre ich Widerwillen gegen die hilflosen Versuche, Betroffenheit durch grosse, aufgeladene Worte verstärkt darstellen zu wollen. Der Widerwille geht gegen diese Wörter selbst, die offenbar angebracht sind, sich in mir aber sträuben, wortwörtlich im Hals stecken bleiben. Wieso? Ist es dafür nicht Zeit?
Ich kann nicht über den Krieg schreiben, aber auch nicht über etwas anderes. An dieser Stelle überlegte ich, den ganzen Platz zu füllen mit dem Wort «Abrüstung». Wieder und wieder «Abrüstung». Vielleicht dazwischen ein Fragezeichen. Am Schluss ein «bitte», vielleicht. Eine Art Gedicht. Aber ist es nicht vermessen, sich Abrüstung zu wünschen, wenn Menschen unter Beschuss nach Verteidigungshilfe verlangen? Was weiss ich schon, Zu-Hause-auf-dem-Sofa-Pazifistin, mit drei Wolldecken und trotzdem kalten Füssen. Es braucht jetzt weder Befindlichkeiten noch meine Sicht der Dinge.
Und doch formuliere ich hier in aller Unbeholfenheit mein diffuses Unbehagen gegenüber den Wörtern. Meine persönliche Sorge, mein aktueller Struggle: Wie können wir schreiben, heute, ohne in kriegerische Narrative zu verfallen? Ohne anzuheizen? Ohne imaginäre Wahrheiten zu zementieren? Ohne Rückschritte zu machen? Ohne zu verharmlosen? Ohne sich zu gewöhnen? «Ukraine-Krieg und Börse: Warum Sie Ihrer Anlagestrategie treu bleiben sollten». Das Unbehagen verwandelt sich in Übelkeit, wenn das Profane so lapidar neben das Unvorstellbare gesetzt erscheint.
Den Weg aus diesem Krieg kennen wir noch nicht. Aber einen aus der Sprachlosigkeit. Das Unsagbare steckt in der Poesie. Ich kenne kein Land, das die Lyrik so hoch schätzt wie die Ukraine.
Michelle Steinbeck ist Autorin.