Klimastreik: Radikal, unideologisch, gewaltfrei
Die erste Studie über die Schweizer Klimastreikenden zeigt, dass diese die Klimakrise als soziale Frage denken. Sie zeigt auch: Die Klimabewegung geht weiter – und wird radikaler.
Der Klimastreik wird nicht nur Bestand haben, sondern sich wie die Klimakrise weiter zuspitzen. Die Bewegung ist vielfältig, aber nicht gespalten. Das sind keine Durchhalteparolen. Das sind Befunde der ersten wissenschaftlichen Studie zum Klimastreik in der Schweiz.
Der WOZ liegt die Studie der Universität Basel im Auftrag der sozialdemokratischen Anny-Klawa-Morf-Stiftung vorab vor. Ein Team um Soziologieprofessor Oliver Nachtwey wertete 165 Fragebögen und 15 Interviews mit Aktivist:innen aus. Detailliert gibt die Studie Einblick in Überzeugungen, den sozialen Hintergrund und Zukunftspläne von Klimaaktivist:innen. Die Mehrheit hat mindestens eine Matur und rechnet sich zur Mittelschicht. Trotzdem sind die Elternhäuser der Befragten bemerkenswert: Über sechzig Prozent haben Mütter und fast ein Viertel Väter in sozialen Berufen.
Polizei kommt schlecht weg
Fast drei Viertel wurden von Freund:innen für den Klimastreik motiviert, Greta Thunberg oder andere «gesellschaftliche Vorbilder» geben knapp vierzig Prozent als Motivator:innen an. Mehr als die Hälfte wählt grün, gut ein Fünftel sozialdemokratisch, drei Prozent grünliberal. Den Klimabewegten ist eine «saubere Umwelt» wichtiger als «Zeit für die Familie», diese aber doch wichtiger als Genuss. Letzteren ziehen sie harter Arbeit allerdings vor. Keinerlei Sympathien haben Reichtum und das Recht, zu befehlen. Von allen Schweizer Institutionen geniesst die Polizei bei ihnen das geringste Vertrauen, aber Bundesrat, EU, Parteien und «etablierte (Massen-)Medien» stehen gar nicht so viel besser da. Das grösste Vertrauen geniessen «Umweltgruppen».
Die Interviewten sind sich alle einig, dass die Schweiz bis 2030 CO2-Neutralität erreichen muss, damit die globale Erwärmung bei unter zwei Grad Celsius und die Folgen der Klimakrise verkraftbar bleiben. Ebenfalls sind sie sich einig, dass der Klimawandel die soziale Ungleichheit verschärft – entsprechend deutlich sind ihre Forderungen nach «Klimagerechtigkeit». Neben feministischen und antirassistischen Bewegungen werden relativ überraschend die Gewerkschaften als Bündnispartnerinnen hervorgehoben.
In der Umfrage erhalten Umverteilung und Bleiberecht für alle breiten Zuspruch. «Die Verbindung von Klima- und sozialer Gerechtigkeit ist sehr auffällig», sagt der Hauptautor der Studie, Simon Schaupp. Den Klimaaktivist:innen sei es eben nicht egal, wenn ärmere Menschen, die aufs Auto angewiesen seien, plötzlich astronomische Benzinpreise zahlen müssten.
Die Interviewten zeichnen nach, wie sich sozialer Aktivismus mit Klimaanliegen verbinden lässt: Eine Person erzählt, wie sich Aktivist:innen mit Menschen aus der Flugbranche getroffen und von den dortigen «Hundslöhnen» erfahren haben. Auch im Bau oder in der Betonindustrie müsse man die «Arbeitenden und auch diese Klimaforderungen» zusammenbringen. Diese Ideen leiten Klimastreikende aus der Praxis ab: Im Gegensatz zu «anderen kapitalismuskritischen Bewegungen» stellen sie sich gemäss Studie «nicht aus Prinzip» gegen «das System». Die Forderung nach einem Systemwandel leite sich aus «der konkreten Wahrnehmung ab», der jetzige Kapitalismus sei «unfähig, mit der Klimakrise umzugehen, oder habe diese direkt verursacht». Der Klimastreik sei eine «gleichermassen radikale als auch unideologische Bewegung», so die Studie. «In den Interviews sagen sie: Wir sind offen für alles, was funktioniert», so Schaupp. Das sei ein Anzeichen für Ideologiefreiheit. «Einen System Change fordern sie, weil so vieles nicht funktioniert.»
Mehr Blockaden zu erwarten
Was bedeutet der Befund, der Klimastreik werde sich «zuspitzen»? Schaupp sagt: «Das grosse menschliche Leid durch die Klimakrise wird mehr Leute mobilisieren.» Doch aus den Daten gehe auch hervor, dass viele Aktivist:innen zunehmend weniger an die Wirkung von Demos und symbolischem Protest glaubten. Stattdessen könne man künftig mehr Blockaden erwarten. «Trotz der Radikalität ist allen Gewaltfreiheit wichtig», betont Schaupp.
In der Studie heisst es, beim Klimastreik meldeten sich immer wieder Konzerne, die sich gegen eine Spende öffentlich als Verbündete des Klimastreiks darstellen möchten. Solche Greenwashing-Angebote lehnt der Klimastreik ab. Die Anny-Klawa-Morf-Stiftung hat tiefere Massstäbe: Gemäss Danksagung haben Spenden einer Privatbank und eines Versicherungskonzerns zur Finanzierung der ersten Studie über die antikapitalistische Klimabewegung beigetragen.