Maryna Er Gorbach: «Wenn die Ukraine untergeht, wird auch Europa untergehen»

Nr. 11 –

In ihrem Spielfilm «Klondike» blendet die ukrainische Regisseurin Maryna Er Gorbach zu den Anfängen des Kriegs im Donbass zurück. Als es darum ging, den Film zu finanzieren, hat das in Europa noch kaum jemanden interessiert.

«Klondike» zeigt, was der 2014 von Wladimir Putin in der Ostukraine entfesselte Krieg anrichtete: Irka (Oksana ­Tscherkaschyna) in ihrem zerbombten Wohnzimmer. Still: Kedr Film

WOZ: Maryna Er Gorbach, Ihr Film «Klondike» spielt 2014 im Donbass und zeigt auf intime Weise, was der aufziehende Krieg mit den Menschen macht. Haben Sie einen direkten persönlichen Bezug zu dem, was sich damals dort abspielte?
Maryna Er Gorbach: Ich weiss, dass es nach der Berlinale in manchen Kritiken fälschlicherweise hiess, ich hätte Wurzeln in der Ostukraine oder hätte zeitweise dort gelebt. Nein, ich stamme aus Kiew, und abgesehen von einem Studienjahr bei Andrzej Wajda in Polen habe ich bis zu meinem Umzug nach Istanbul immer in Kiew gelebt. Aber für das, was ich mit «Klondike» vermitteln wollte, muss ich auch nicht unbedingt dort gelebt haben: nämlich, dass dieser 2014 von Putin im Donbass entfesselte Krieg eben kein «lokaler Konflikt» ist, wie er in den internationalen Medien meist bezeichnet wurde, sondern dass das von Anfang an ein europäischer Krieg war. Und seit dem 24. Februar ist das jetzt für alle klar.

«Klondike» ist inspiriert von einer wahren Begebenheit: dem Abschuss eines Flugzeugs der Malaysia Airlines durch prorussische Separatisten. Konnten Sie am Originalschauplatz drehen?
Das war ursprünglich meine Absicht. Ich ging 2016 mit dem fertigen Drehbuchentwurf ins staatliche Geografieinstitut in Kiew und liess mir Karten zeigen, auf denen der exakte Frontverlauf eingezeichnet war. Doch die Gegend lag damals, wie schon 2014, in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet, haarscharf an der Grenze. So musste ich die Idee mit dem Originalschauplatz verwerfen. Die Suche nach einer geeigneten Location brauchte dann ziemlich viel Zeit, bis wir schliesslich im Hinterland von Odessa fündig wurden.

Hat es deshalb so lange gedauert, bis Sie den Film realisieren konnten? Oder gab es andere Gründe?
Das hatte in erster Linie finanzielle Gründe. Finanzierungsgarantien hatten wir lange nur von türkischer und ukrainischer Seite, aber das reichte bei weitem nicht. Ich stellte mein Projekt bei diversen europäischen Förderstellen vor, musste aber erleben, dass es praktisch kein Interesse gab an einem Film über die Geschehnisse rund um diesen verdrängten und vergessenen Krieg am scheinbaren Rand von Europa. Es war ernüchternd. Als wir im Spätsommer 2020 dann endlich drehen konnten, kam nach wenigen Wochen der zweite Lockdown. Ich flog zurück nach Istanbul, und der grösste Teil der Postproduktion erfolgte via Zoom – ich mit meinem Mann in Istanbul, meine Crew in Kiew.

Wie sieht das nun aktuell aus, nach über zwei Wochen Krieg?
Meine Crew ist in Kiew, die Männer kämpfen an der Front. Was meine Familie betrifft: Meine Mutter und meine Schwester leben weiterhin in der Ukraine, zwischen Kiew und Irpin – das ja bereits traurige Bekanntheit erlangt hat. Beide weigern sich zu gehen. Fast jedes Mal, wenn ich mit ihnen telefoniere, höre ich im Hintergrund den Einschlag von Geschossen. Ich beschwöre sie zu gehen, doch sie sagen: Wir bleiben, solange es irgendwie geht, es ist unser Land, wir haben ein Recht, hier zu sein. Und wenn ihnen die Argumente ausgehen, sagt meine Mutter: Ich gehe nur schon deshalb nicht von hier weg, weil ich unsere Katzen nicht im Stich lassen werde.

Eigentlich ereignet sich ja jetzt millionenfach das, was die beiden Hauptfiguren in «Klondike» erleben.
Genau, mein Film handelt von einem jungen Paar, das schlicht und ergreifend dafür kämpft, ein Leben zu haben. Es geht nicht um Ideologien oder um irgendwelche postmodernen Lebenskonzepte. Irka und Tolik wollen nur ihren Traum von einem einfachen Familienleben auf dem Land verwirklichen, nichts anderes.

Nun werden diese Träume für die Menschen in der Ukraine zerstört – aber auch für die Menschen in der Diaspora. Wie war das in Ihrem Fall?
Ich war keine Träumerin, ich war sicher, dass dieser Krieg kommen würde. Ich muss gestehen, dass ich mir dabei auch nicht hätte vorstellen können, dass Wladimir Putin nun wahllos Schulen, Spitäler, Kindergärten bombardieren lassen würde. Aber es hat durchaus auch seine Logik: Putin kann einfach nur flächendeckend zerstören, um das durchzusetzen, was er in dem von ihm erschaffenen Paralleluniversum für richtig hält. Dafür verheizt er auch junge Soldaten, die er mit seiner Propaganda verblödet hat und die oft nicht einmal wissen, wo sie sind und warum sie sich da befinden, wo sie sind.

«Klondike» hat eine starke pazifistische Botschaft, gewidmet haben Sie den Film den Frauen. An Friedensdemonstrationen im Westen hört man auch Kritik an der allgemeinen Wehrpflicht für Männer in der Ukraine. Wie sehen Sie das?
Leider sind wir aktuell in einer Situation, in der es nur noch Schwarz und Weiss gibt. Wenn wir keine Männer mehr haben, die kämpfen, werden wir nicht überleben. Es gibt leider keinen anderen Weg, wir können uns jetzt keine intellektuellen Kämpfe liefern. Denn wenn die Ukraine untergeht, wird auch Europa untergehen.

Die Forderung der Ukraine nach einer Flugverbotszone hat der Westen bislang klar abgelehnt, mit dem Hinweis auf die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation. Was halten Sie davon?
(Seufzt und denkt lange nach.) Putin hat ja diesen Mythos von der unbesiegbaren russischen Armee und von den unendlichen militärischen Ressourcen Russlands geschaffen. Doch in Wirklichkeit ist dieser Mythos morsch, es gibt jede Menge Korruption, die ein effizientes Funktionieren der russischen Kriegsmaschinerie behindert. Das Einzige, was wirklich zählt, sind die Atomwaffen Russlands – und da stellt sich die Frage, ob Putin verrückt genug ist, auch diese allenfalls einzusetzen. Ich kann Ihnen keine klare Antwort auf Ihre Frage geben. Nur so viel: Putin hat die Logik eines Vampirs. Je mehr Blut er leckt, umso mehr Blut will er – und je mehr Angst man vor ihm hat, umso dreister wird er.

Maryna Er Gorbach Foto: Rafał Nowak

Maryna Er Gorbach, 1981 in Kiew geboren, lebt seit 2007 mit ihrem Mann, dem türkischen Regisseur und Produzenten Mehmet Bahadir Er, in Istanbul. Bei der Weltpremiere am Sundance-Filmfestival erhielt sie für «Klondike» den Regiepreis.

«Klondike» : Zwei Bäuer:innen im Donbass

«Klondike» von Maryna Er Gorbach spielt 2014 im kleinen Dorf Hrabowe in der Ostukraine – dort, wo am 17. Juli jenes Jahres ein von prorussischen Separatisten abgeschossenes Passagierflugzeug der Malaysia Airlines abstürzte. Der Filmtitel spielt auf den Goldrausch am Klondike River in Kanada an, durch den Ende des 19. Jahrhunderts ein riesiger Landstrich verwüstet wurde.

Vor der Kulisse einer idyllischen Landschaft erzählt «Klondike» von den tödlichen Verwüstungen, die der aufziehende Krieg im Donbass in der Beziehung eines jungen Bäuer:innenpaares anrichtet: Während Tolik (Sergei Schadrin) von seinen Freunden, prorussischen Separatisten, zur Teilnahme an den Kämpfen gedrängt wird, will seine hochschwangere Frau Irka (Oksana Tscherkaschyna) nur eines: in Ruhe das gemeinsame Kind zur Welt bringen. Was schon deshalb illusorisch scheint, weil ihr Bruder (Oleg Schtscherbyna), der gelegentlich auf dem Hof mithilft, ein überzeugter Anhänger der Regierung in Kiew ist.

Am 36. Filmfestival Fribourg (FIFF), das vom 18. bis 27. März stattfindet, läuft «Klondike» im internationalen Wettbewerb als Schweizer Premiere. Der Film ist dort insgesamt fünfmal zu sehen, Regisseurin Maryna Er Gorbach wird vom 23. bis 27. März am Festival anwesend sein.

Geri Krebs