Monatsinterview mit Mirjam Belkhadem (Teil 2): Geben Sie in der Kita eine Anleitung zum Grosswerden?

Nr. 15 –

Für Kinder, die zu Hause auf Händen getragen werden, sei die Kita eine einschneidende Erfahrung, sagt Mirjam Belkhadem, Leiterin der Kita Lupine in Basel. Ein Gespräch über die richtige Pädagogik für Kleinkinder.

Mirjam Belkhadem: «Ich kann den Turm selber bauen oder den Kindern zeigen, wie sie das mit den Bauklötzen hinbekommen. Sie sollen später für sich selber sorgen können.»

WOZ: Mirjam Belkhadem, merkt man es Kindern an, ob sie in die Kita gehen?
Mirjam Belkhadem: Ich finde schon. Kita-Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie nicht immer im Mittelpunkt stehen.

Das hängt vermutlich auch davon ab, wie man in einer Kita mit den Kindern umgeht. Was ist Ihr Ansatz?
In der Kita erleben die Kinder Gemeinschaft. Bei uns ist das besonders ausgeprägt, weil wir relativ grosse Gruppen haben. Wir legen viel Wert auf die Eigentätigkeit, also das sogenannte Explorieren. Kinder sollen sich selber beschäftigen, sollen selber etwas erforschen können – aus dem eigenen Impuls heraus und nicht von Lernprogrammen diktiert. Ich stelle den Raum zur Verfügung, die Angebote, aus denen ein Kind dann auswählen darf. Wir als Erzieher und Erzieherinnen sind nicht da, um Bedürfnisse zu befriedigen. Viel eher müssen wir sie gemeinsam mit den Kindern erkennen.

Das ist für einige Kinder eine neue Erfahrung.
Ja, und es ist eine einschneidende Erfahrung. Die Kinder merken, dass sie keine Freunde finden, wenn sie immer alles für sich alleine wollen. Kinder haben ein gutes Sensorium für diese Dinge. Das lässt sich schon bei den ganz Kleinen beobachten: Wie die sich ärgern können, wenn ein Kind die ganze Zeit quengelt, um Aufmerksamkeit zu erhalten! Dann stupsen sie das Kind manchmal absichtlich. In solchen Situationen können beide etwas Wesentliches lernen.

Könnte man sagen, dass Sie in der Kita eine Anleitung zum Grosswerden geben?
Es ist schon der Montessori-Gedanke: Lehre mich, es selbst zu tun. Ich kann den Turm selber bauen oder den Kindern zeigen, wie sie das mit den Bauklötzen hinbekommen. Sie sollen später für sich selber sorgen können. Sie müssen ihre eigenen Bedürfnisse erkennen, und dafür müssen sie sich selber kennenlernen. Aber natürlich sind sie auf Unterstützung angewiesen. Ich bin auch da, wenn der Turm zusammenfällt und Frustrationen entstehen.

Bei Bauklötzen kann ich mir das vorstellen. Wie ist es, wenn es zu Konflikten kommt, zu Gewaltausbrüchen? Dann können Sie die Kinder nicht sich selber entdecken lassen.
Es ist nicht gut, sofort zu unterbrechen – ausser ich merke, da ist jemand körperlich oder seelisch unterlegen. Dann muss ich sofort dazwischengehen. Sonst kann es sehr lehrreich sein, die Eskalation geschehen zu lassen und sich erst danach einzubringen. Manchmal reicht es schon, wenn ich zeige, dass ich gesehen habe, was passiert ist. Ich gebe die Bestätigung, dass ein Kind das Geschehene richtig wahrgenommen hat: «Ja, ich habs genau gesehen, dass er dir etwas weggenommen hat.» Oder ich frage: «Hast du gemerkt, dass das andere Kind den Ball auch wollte?» Wichtig ist, die Handlung nicht gleich zu bewerten. Beschreiben ist viel wertvoller als Beurteilen.

Funktioniert das Prinzip auch zu Hause, im Dauerstress, oder auf dem Spielplatz? Ich gehe bei meinen Kindern meist gleich dazwischen, wenn es Zoff gibt.
Ich finde schon, dass das nicht nur spezifisch in der Kita funktioniert. Es geht ja eigentlich ums Befähigen der Kinder. Ich muss ihnen helfen, dass sie Konflikte bewältigen können, dass sie selber verstehen, was passiert ist.

Mein Erziehungsgrundsatz ist: Nicht auf Schwächere losgehen, nicht nach unten treten. Da interveniere ich sofort. Ist das falsch?
Ich spüre da ein inneres Anliegen. Das finde ich super. Eltern müssen wissen, was ihnen wichtig ist, und das weitergeben. Das ist authentisch, die Kinder spüren das. Kinder brauchen Vorbilder, die auch einmal übertreiben, danebenliegen, die Fehler machen und sich hinterfragen. Das ist ungeheuer wirkungsvoll. Sie sehen dabei auch, dass Sie als Vater für Ihre Prinzipien kämpfen. Eine wichtige Lektion.

Den grössten Teil der Prägung erhalten Kinder zu Hause. Wie passt da hinein, was in der Kita passiert?
Man kann sich Kindererziehung wie einen grossen Kuchen vorstellen. Am Anfang gehört der ganze Kuchen den Eltern und der Familie. Dann geht ein Stück an die Kita, danach an den Kindergarten, die Schule, Freunde, Hobbys. Der Elternanteil wird über die Jahre immer kleiner. Irgendwann entscheiden die Kinder selber, wer alles Teil dieses Kuchens ist.

Woraus besteht das Kuchenstück, das der Kita zufällt?
Für viele Kinder, die aus kleinen Familien kommen, die keine Geschwister haben oder nur eines, ist die Kita eine Riesenchance. Zu Hause sind die Rollen immer klar verteilt. In der Kita, wo sie mit Gleichaltrigen konfrontiert sind, lösen sich die Rollen auf. Je grösser die Gruppe ist, desto eher können Kinder aus ihrer angelernten Rolle fallen. Gerade auch für Kinder, die zu Hause Prinzen oder Prinzessinnen sind, kann es bereichernd sein, Teil einer Gemeinschaft zu werden und sich von der Gruppe getragen zu fühlen. Das Prinzendasein kann auch einsam sein.

Für Mirjam Belkhadem gibt die Pädagogik von Maria Montessori (1870–1952) zentrale Leitlinien für den Kita-Betrieb. In der Praxis heisst das, dass Belkhadem vor allem als Mentorin fungiert und sich die Kinder im eigenen Tempo entwickeln können. Die Grundidee: Ein Kind strebt von Anfang an danach, von Erwachsenen unabhängig zu werden.