Monatsinterview mit Mirjam Belkhadem (Teil 4): Sind die Bedürfnisse der Kinder zu kurz gekommen?
Mirjam Belkhadem untersagte in ihrer Kita, am Mittagstisch über Corona zu sprechen. Die Pandemie war sonst schon überall präsent: Bereits die Kleinsten wussten, was das Virus ist und wie sie sich davor schützen mussten.
WOZ: Mirjam Belkhadem, war die Pandemie für Sie und die Kita eine riesige Zumutung?
Mirjam Belkhadem: Natürlich war es eine Zumutung, keine Frage. Corona stürzte die ganze Gesellschaft in die Krise. Wir als Kita waren damit beschäftigt, zu funktionieren. Wir mussten ganz viele kleine Entscheidungen treffen und ausprobieren, wie es am besten geht. Wobei die Schutzkonzepte hier in Basel-Stadt klar waren und gut kommuniziert wurden. Es wurde auch nicht pingelig kontrolliert, das fand ich sehr okay.
Machten Sie in den letzten zwei Jahren auch positive Erfahrungen?
Was sicher eine wichtige Erkenntnis war: dass wir systemrelevant sind. Das kam oft als Rückmeldung, als wir geschlossen hatten und dann wieder aufmachen durften: Gott sei Dank habt ihr wieder offen. Wir haben gespürt, dass wir wichtig sind. Das tat allen gut. Ich spürte eine neue Dankbarkeit bei den Eltern. Ich hatte noch nie so wenige schwierige Situationen mit ihnen gehabt wie in den letzten beiden Jahren. Die Eltern waren unglaublich relaxed und tolerant. Corona hat fast alle Nörgler verstummen lassen.
Und die Arbeit mit den Kindern? Konnten Sie die Normalität aufrechterhalten?
Ich habe gestaunt, wie die Kinder mit der Situation umgegangen sind. Sie haben dafür gesorgt, dass wir unserer Arbeit weiter normal nachgehen konnten. Das war sehr wohltuend. In einem früheren Gespräch haben wir von der Kita als heiligem Raum gesprochen – und diese Normalität, die hatte fast etwas Heiliges. Wir spielten, wir bastelten, wir hatten Konflikte, hatten es lustig – den Alltag haben wir uns bewahrt. Natürlich mit all den Schutzmassnahmen. Das war ein riesiger Balanceakt: Darf man jetzt singen oder nicht, darf man sich die Hand geben? Wir mussten da Kompromisse finden. Aber auch da haben die Eltern mitgezogen, denn es war für alle nicht einfach. Wir hatten in der Kita die gleichen Themen wie die Eltern zu Hause: Sollten sie jemanden einladen? Sollten sie immer den Abstand wahren? Wie steht es ums Gemüt?
Ich fand es auch erstaunlich, wie selbstverständlich die Kinder die Regeln befolgten. Masken in der Schule, immer Hände waschen, das wurde schnell und ohne viel Mühe verinnerlicht.
Ja, sie haben das angenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war wirklich eindrücklich. Aber manche der Kinder hatten auch Probleme. Es eskalierte an einigen Stellen. Woran es lag, ist schwierig zu sagen. Natürlich waren das alles Schwierigkeiten, die schon vor der Pandemie da waren, aber die haben sich akzentuiert. Vor allem bei älteren Kindern.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Vieles davon hat uns nicht direkt tangiert. Aber wir hatten auch zwei Fälle von Fremdplatzierungen, wo die Behörden Kinder aus ihren Familien rausnehmen mussten, das hatten wir sonst praktisch nie. Und wir hatten auch einige Kinder, die psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten, vor allem, weil sie Stress in der Schule hatten.
Hatten Sie Konflikte mit Eltern, die strenge Schutzmassnahmen wollten, und solchen, die Corona für harmlos hielten?
Nein, zum Glück nicht. Dieser Konflikt wurde bei uns jedenfalls nicht offen ausgetragen. Ich habe natürlich in der Kita den Vorteil, dass es klare Regeln gibt, die nicht verhandelbar sind. Ich konnte auch betonen, wie wichtig Gemeinschaft und Wärme sind und dass es keinen Sinn ergibt, Kinder ständig zu trennen. Ich konnte das Politische ein bisschen umschiffen.
Sind die Bedürfnisse der Kinder während der Pandemie zu kurz gekommen?
Zunächst finde ich interessant, dass wir uns als Gesellschaft überhaupt einmal die Frage gestellt haben, was denn die Bedürfnisse der Kinder sein könnten. Darüber denken wir ja nie nach. Sie brauchen Beziehungen und Nähe, was glücklicherweise nie verboten wurde. Für Kinder, die jeden Nachmittag in die Kita kamen, veränderte sich nicht viel. Sie hatten ihre Kontakte. Kinder, die nur in der Schule oder zu Hause waren, hatten es schwerer. Sie mussten ihre Hobbys aufgeben und verschanzten sich dann in ihrem Zimmer. Das ist schädlich.
Haben Sie den Kindern erklärt, was das Coronavirus ist und warum es Massnahmen dagegen braucht?
Nein, eigentlich nicht. Schon die Kleinsten wussten ja, was Corona ist. Wir haben dann abgemacht, dass wir zumindest am Mittagstisch nicht darüber reden.
Wieso nicht?
Es kann nicht immer die Krise im Fokus sein, der Schrecken und die Angst. Wir sprechen auch nicht über den Krieg in der Ukraine. Dafür generell über Themen wie Krieg und Frieden. Wir erklären, dass es Kinder anderswo auf der Welt schwer haben und dass sie nicht zur Schule gehen können. Wir sprechen darüber, dass wir auf der ganzen Welt Frieden schaffen müssen. Für die Kinder ist vollkommen klar, was Frieden ist und warum alle Kinder Frieden brauchen. So wie ich ihnen auch nicht erklären muss, was ein König ist. Sie verstehen das einfach.
Mirjam Belkhadem eröffnete vor zwanzig Jahren ihre Kita mit fünf Kindern. Heute betreut die «Lupine» im Basler Stadtteil St. Johann über 120.