Friedenspolitik: «Sie erzählen uns Geschichten vom Bösen»

Nr. 19 –

Die feministische Friedensaktivistin Kristina Lunz hält Waffenlieferungen an die Ukraine für geboten. Sie sagt jedoch auch: Um langfristig Kriege und Krisen zu überwinden, müssten wir endlich aufhören, die Welt als gefährlichen Ort wahrzunehmen.

«Feministische Aussenpolitik schaut alle Lebensrealitäten an – auch die von Frauen»: Eine Mutter liest in einer Charkiwer U-Bahn-Station mit ihrem Sohn ein Buch. Foto: Alex Chan, Getty

WOZ: Frau Lunz, der Krieg gegen die Ukraine dauert schon mehr als zwei Monate. Wie hat er aus Ihrer Sicht die Welt bislang verändert?
Kristina Lunz: Der russische Angriff hat die Hoffnung auf eine friedlichere, bessere Welt erschüttert. Und er zeigt die Vulnerabilität von Menschen auf. Am allermeisten natürlich in der Ukraine, aber auch darüber hinaus. Im Globalen Süden geht es um die Ernährungssicherheit von Menschen, die in unserer kapitalistisch-globalisierten Welt abhängig vom Weizen aus Russland und der Ukraine sind. In Russland wiederum werden die Rechte der Menschen noch weiter eingeschränkt. Das alles fordert den Glauben an menschenrechtlichen Fortschritt heraus. Daran, dass die Politik irgendwann andere Lösungen findet als patriarchalisch-martialische.

Genau solche Lösungen dominieren derzeit die Debatten. «Seht her», heisst es, «die Welt ist nun einmal grausam. Eure verweichlichte linke Genderpolitik taugt da nichts.»
Das ist irre. Eine maximale Verdrehung der Tatsachen. Wir erleben gerade die Konsequenzen eines hypermilitarisierten globalen Zustandes. Dieser Zustand ist kein Naturgesetz, sondern das Resultat von bewussten politischen Entscheidungen darüber, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist und wie darin Konflikte gelöst werden. Seit Jahrtausenden sind die vorherrschenden Gesellschaftsmodelle patriarchal geprägt, und viele Menschen finden darin keine Sicherheit. Und nun sagen ausgerechnet jene, die schon viel zu lange von diesem System profitieren: Seht her, wir leben in einer brutalen Welt. Eure deeskalierenden, feministischen oder menschenrechtsbasierten Ansätze funktionieren nicht. Aber die Wahrheit ist: Das patriarchale System hat noch nie funktioniert.

In dieser Erzählung von den harten geopolitischen Realitäten schwingt ja immer mit, dass die Welt nicht veränderbar sei.
Ganz genau. In den internationalen Beziehungen ist die sogenannt realistische Denkschule sehr prägend. Die «Realisten» haben ein pessimistisches Menschenbild, das bereits in anderen Disziplinen als falsch entlarvt wurde. Nehmen wir etwa den Homo oeconomicus: Es stimmt einfach nicht, dass jeder Mensch nur nach finanziellem Gewinn strebt. Und doch erzählen uns die einflussreichen Vordenker der internationalen Beziehungen, etwa Thomas Hobbes, Machiavelli oder auch der ehemalige US-Aussenminister Henry Kissinger, Geschichten vom Bösen. Sie haben das Narrativ geprägt, dass die Menschen in einem natürlichen Konkurrenzkampf zueinander stünden und effektive internationale Politik deshalb nur über Dominanz, Abschreckung und Gewaltandrohung funktioniere. Und wer es schafft, Narrative zu bestimmen, hat Macht.

Dieser dominierenden Denkweise setzen Sie das Konzept der feministischen Aussenpolitik entgegen. Was will sie?
Das patriarchale Verständnis von Aussen- und Sicherheitspolitik ist, dass alle Menschen sicher sind, wenn wir die militärische Sicherheit erhöhen. Feministische Aussenpolitik ist die Abkehr davon. Sie legt den Fokus auf menschliche Sicherheit und schaut alle Lebensrealitäten an – auch die von Frauen und allen anderen marginalisierten Gruppen. Wenn wir dem aussenpolitischen Handeln ein Konzept der menschlichen Sicherheit zugrunde legen, sehen wir sofort, dass die alten Geschichten nicht funktionieren. Etwa die Erzählung, dass Atomwaffen den Menschen Sicherheit bieten. Die USA etwa stecken Milliarden von Dollar in die nukleare Aufrüstung, hatten dann aber während der Pandemie nicht genug Geld für Intensivbetten oder Krankenhauspersonal. Feministische Aussenpolitik sagt: Die Paradigmen der Geld- und Ressourcenverteilung, die unter der «realistischen» Denkweise entwickelt wurden, bieten den Menschen keine Sicherheit.

Feministische Aussenpolitik setzt stark auf Deeskalation, Kooperation und Diplomatie. Doch mit Putin versetzt derzeit ein kriegslüsterner Autokrat die Welt in Angst. Brauchen wir also gerade nicht andere Mittel?
Die anderen Vorgehensweisen haben ja noch nie getaugt und taugen auch jetzt nicht. Ein feministischer Ansatz würde aber auch ganz ehrlich sagen: Scheisse, Leute, was wir hier seit Jahrhunderten fabrizieren, führt immer wieder zu Kriegen und Gewalt, und jetzt, wo diese Gewalt in der Ukraine da ist, müssen wir akut die Menschen in ihrer Notwehr unterstützen.

Sie finden also, der Westen muss der Ukraine Waffen liefern?
Die massive Aufrüstung ist da, der Schrecken und die Gewalt sind da, darauf müssen wir jetzt kurzfristig eine Antwort liefern. Das können auch Waffen sein. Gleichzeitig sagt der feministische Ansatz, dass wir genau heute damit anfangen müssen, mittel- und langfristig bessere Systeme zu bauen. Diese Unterscheidung ist mir sehr wichtig.

Was heisst das konkret?
Wenn nun in Deutschland politisch versucht wird, 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr auszugeben, dann müssen wir das aus feministischer Perspektive bekämpfen. Denn diese künftige Aufrüstung wird wieder keine menschliche Sicherheit schaffen. Stattdessen müsste es jetzt so viel Sondervermögen für die Klimagerechtigkeit geben, denn die Klimaerhitzung ist das grösste Sicherheitsproblem unserer Zeit. Stattdessen will Deutschland derzeit 1,6 Milliarden Euro für internationale Entwicklungszusammenarbeit streichen, darunter auch Gelder für das Welternährungsprogramm. Das ist wahnsinnig kurzfristig gedacht – und wahnsinnig dumm.

Sie sagen in Interviews, man müsse Ambiguitäten aushalten. Das gelingt derzeit vielen nicht sehr gut. Auf der einen Seite stehen die Rüstungsfanatiker:innen, auf der anderen Seite forderten Prominente in Deutschland kürzlich in einem offenen Brief, die Ukraine solle doch einfach kapitulieren.
Ich würde mir nicht anmassen, so etwas zu unterschreiben, auch wenn ich eine stark antimilitaristische Haltung habe. Vor kurzem war ich an einer Veranstaltung, wo auch der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, anwesend war. Er erzählte, er sei in Berlin seit Wochen wie ein Waffendealer unterwegs, der irgendwie versuche, Gerät zu beschaffen, um seine Mitmenschen zu schützen. In einem solchen Moment käme ich nicht auf die Idee, ihm zu widersprechen, weil ich seinen Schmerz und seine Erfahrung nicht kenne. Ich wünsche mir, dass wir bei allem, was wir tun, die Stimmen der Betroffenen vor Ort in den Vordergrund stellen. Und ja, diese Stimmen sind wahrscheinlich divers. Es gibt Menschen, die fliehen, wenn sie können. Und solche, die entscheiden sich, obwohl sie fliehen könnten, zu bleiben und zu kämpfen. Auch Frauen. Ein feministischer Ansatz würde der Zivilgesellschaft vor Ort Platz einräumen und fragen, was sie braucht, statt ihnen Forderungen zu stellen.

Nun argumentieren aber manche Konfliktforscher:innen, dass ziviler Widerstand sinnvoller, weil erfolgreicher sei. Finden Sie das auch eine Anmassung?
Ja. Klar gibt es viel Forschung dazu, wann ziviler Widerstand funktioniert und wann nicht. Rückblickend kann man sich gut unterschiedliche Bewegungen und ihr Verhalten in Konflikten anschauen, und diese Forschung ist auch wichtig. Aber in akuten, noch laufenden Fällen ist es extrem heikel, Vergleiche zu ziehen, gerade bei einem so brutalen Angriffskrieg wie diesem. Und wir müssen deutlich aufpassen, ob wir, die wir in Sicherheit leben, den Menschen vor Ort wirklich mit irgendwelchen schlauen Sprüchen kommen möchten. Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, meine eigene Regierung zu beurteilen. Vor allem in der Frage, wie sie sich mittel- und langfristig verhält. Ob sie wieder auf Militarisierung statt menschliche Sicherheit setzt.

Jedoch ziehen Waffenlieferungen den Krieg in die Länge. Und Wladimir Putin scheint nicht vor einem endlosen Zermürbungskrieg mit enorm vielen Opfern zurückzuschrecken. Hat man, wenn man Waffen liefert, am Ende nicht doch auch Mitverantwortung für mehr Tote?
Eine Bereitstellung von mehr Waffen wird mit Sicherheit zu mehr Gewalt und mehr Toten führen, und ich werde dieses Dilemma nicht auflösen können. Ich kann auch nicht sagen, zu welchem Zeitpunkt wer genau wie viele und welche Waffen liefern sollte. In meiner Rolle kann ich nur darauf pochen, dass, wenn wir solche Strategien fahren, die mehr Gewalt bringen, wir zur selben Zeit anfangen, in Strategien und Strukturen zu investieren, die auf lange Sicht wirklich Frieden bringen und zu mehr Sicherheit beitragen.

Sie sind auch Anti-Atomwaffen-Aktivistin. Aus dieser Warte könnte man argumentieren, dass wir den Krieg um jeden Preis beenden müssen, weil die Gefahr eines Atomschlags steigt, je länger der Krieg dauert.
Ich weiss nicht, ob das viel mit der Dauer zu tun hat. Vielleicht ist es einfach so: Je irrer ein Staatsoberhaupt ist, dem Atomwaffen zur Verfügung stehen, desto grösser die Gefahr, dass es einen Atomkrieg gibt. Es ist der absolute Wahnsinn, dass die Menschheit überhaupt eine Gesellschaft geschaffen hat, in der es möglich ist, dass jemand wie Putin per Knopfdruck Hunderttausende töten kann. Aber auch jetzt schreien wieder Militärexperten mit einem sogenannt realistischen Menschenbild am lautesten, also jene Leute, deren Konzepte uns erst diese problematischen Zustände gebracht haben. Wenn die jetzt wieder Lösungen für unsere Zukunft bringen, dann sehe ich sehr schwarz. Denn wie Albert Einstein einmal so schlau sagte: Wir können unsere Probleme nicht mit dem gleichen Denken lösen, mit dem wir sie geschaffen haben.

Kristina Lunz Foto: Konstantin Börner

Das Grundgefühl der letzten Jahre ist doch: Es gibt zwar viele progressive Bewegungen, aber am Ende kippt es immer in die falsche Richtung.
An schlechten Tagen habe ich diesen Eindruck auch. Wenn ich mich dann aber kurz zurückbesinne, wird mir wieder klar, dass patriarchale Strukturen über Jahrtausende gefestigt wurden, während die feministische Bewegung gerade einmal seit 200 bis 250 Jahren existiert. Auch die antirassistischen und dekolonialistischen Bewegungen sind extrem jung. Die Bewegung für die Queer-Community sowieso. Und doch haben sie in der kurzen Zeit enorm viel Fortschritt geschafft. Was sicher stimmt, ist, dass wir ein Problem bei der Verteilung haben. Das Patriarchat finanziert am Ende nicht die, die das Patriarchat stören wollen. Ich glaube, in dem Moment, wo Gelder nicht für Militarisierung, Verteidigung und Aufrüstung, sondern für menschliche Sicherheit, für feministische Bewegungen und eine progressive Zivilgesellschaft ausgegeben werden, wird ein Wandel möglich, der uns auch wieder langfristig das Gefühl gibt, dass es in die richtige Richtung geht.

Die Friedensaktivistin

Kristina Lunz, Jahrgang 1989, ist Mitgründerin und CEO der gemeinnützigen Forschungs- und Beratungsorganisation Center for Feminist Foreign Policy (CFFP) in Berlin. Die gebürtige Fränkin hat Politikwissenschaften am University College in London und Diplomatie in Oxford studiert. Anfang des Jahres erschien ihr Buch «Die Zukunft der Aussenpolitik ist feministisch» im Econ-Verlag.