Italien: Gegen den Burgfrieden im Kabinett
Mario Draghis grosse Koalition will bald deutlich mehr Geld für die Rüstung ausgeben. Dagegen erwächst Widerstand – breit abgestützt in der Linken und unterstützt von Papst Franziskus.
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine scheint in Italien der Kalte Krieg zurückgekehrt zu sein. Zuweilen erinnert die politische Rhetorik an Zeiten, als die regierende Democrazia Cristiana und die katholische Kirche Kommunist:innen und Sozialist:innen als Abgesandte des Satans brandmarkten. Heute sehen sich jene, die nicht in den Ruf nach mehr Waffen einstimmen, mit dem Vorwurf konfrontiert, sie gehörten zur «Fünften Kolonne Moskaus» oder seien Wladimir Putins «nützliche Idioten». Besonderen Anfeindungen ist ausgesetzt, wer – trotz klarer Verurteilung des Krieges – dessen Vorgeschichte thematisiert und dabei auch die Osterweiterung der Nato nicht ausspart.
Bevorzugtes Hassobjekt ist derzeit Gianfranco Pagliarulo, seit Herbst 2020 Präsident der italienischen Partisan:innenvereinigung Anpi (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia). Die Mailänder Zeitung «Corriere della Sera» höhnte, das P im Namen stehe wohl eher für «Putiniani», Anhänger:innen Putins. Dabei hatte die Führung des 120 000 Mitglieder umfassenden Verbands den russischen Angriffskrieg noch am Tag der Invasion verurteilt. Zugleich aber weigert sich die Anpi, die Aufrüstung Italiens und der EU als moralisch gebotene Fortsetzung des antifaschistischen Widerstands der Jahre 1943 bis 1945 zu adeln.
Ein klassischer Scheinkompromiss
Rund um den Nationalfeiertag am 25. April spitzte sich die Polemik noch einmal zu. Die Veranstaltungen zur Erinnerung an die «Liberazione» in Italien, zwei Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, sind rechten Parteien und Geschichtsrevisionist:innen seit jeher ein Dorn im Auge. Deren provokativer Forderung, in diesem Jahr sollten auch Nato-Flaggen mitgeführt werden, erteilte Pagliarulo eine klare Absage: Für den Frieden werde mit der Regenbogenfahne demonstriert.
So kam es dann auch, zunächst am 24. April beim traditionellen Friedensmarsch von Perugia nach Assisi, der Stadt des Heiligen Franziskus. Dessen Namensvetter, der amtierende Papst, schickte ein Grusswort. Darin forderte er die Regierenden aller Länder auf, der militärischen Eskalation eine Absage zu erteilen. Am 1. Mai war Assisi dann Ort der zentralen Kundgebung der drei grossen Gewerkschaftsbünde; statt Investitionen in die Rüstung forderten sie mehr Geld für Soziales, Bildung, Gesundheit und Klimagerechtigkeit. Dieselben Forderungen waren auch an weiteren Orten zu vernehmen.
Draghis Regierung allerdings beharrt auf ihrem Beschluss, die Rüstungsausgaben auf die von der Nato vorgegebenen zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Dadurch würde der italienische Wehretat von 25 auf 38 Milliarden Euro steigen; umgerechnet sind das 104 Millionen Euro pro Tag – eine Summe, die angesichts wachsender Armut, maroder Schulen, eines überlasteten Gesundheitswesens und einer völlig unzureichenden Umwelt- und Klimapolitik wie eine gigantische Verschwendung erscheinen muss. Das alarmierte auch Teile von Premier Mario Draghis regierender Koalition, allen voran seinen Vorgänger Giuseppe Conte von der Fünf-Sterne-Bewegung. Kurzzeitig schien deshalb sogar eine Regierungskrise möglich – bis sich ein klassischer Scheinkompromiss abzeichnete: Die Erhöhung des Rüstungsetats kommt, vielleicht aber etwas langsamer, als Draghi den Nato-Partnern versprochen hat.
Damit werden sich die Proteste nicht stoppen lassen – zumal die Rüstungsgegner:innen das Recht auf ihrer Seite haben. Artikel 11 der italienischen Verfassung von 1948 beginnt mit den Worten: «Italien verwirft den Krieg […]» In dieser Kurzform wird er auch häufig zitiert, unter anderem auf dem Mobilisierungsplakat der Anpi zum 25. April. Er geht aber weiter mit dem Bekenntnis zu «Frieden und Gerechtigkeit unter den Nationen» und endet mit der Verpflichtung: «Italien fördert und begünstigt internationale Organisationen, die diesem Zwecke dienen.» Die Realität sieht anders aus. Italien gehört bei den Waffenexporten zu den Top Ten der Welt, sein Rüstungskonzern Leonardo (vormals Finmeccanica) beschäftigt etwa 50 000 Menschen, und das hochmoderne Kampfflugzeug F-35 des US-Unternehmens Lockheed Martin wird auch in Cameri nahe Mailand produziert. Dass von Italien aus Waffen in die Ukraine geliefert werden, versuchten Arbeiter:innen am Flughafen von Pisa zu verhindern. Die Basisgewerkschaft USB im Hafen von Livorno erklärte sich solidarisch. Veteran:innen der Friedensbewegung der 1980er Jahre wurden ebenfalls wieder aktiv, auch in Comiso (Sizilien), wo vor vierzig Jahren im Rahmen der Nato-«Nachrüstung» Marschflugkörper stationiert werden sollten.
Der Anfang einer Massenbewegung?
Aktuelle Umfragen in der italienischen Bevölkerung ergeben eine Mehrheit gegen Waffenlieferungen wie auch gegen die von der Regierung beschlossene Anhebung der Rüstungsausgaben. Die Ablehnung bekam am 25. April auch Enrico Letta, Sekretär des mitregierenden Partito Democratico (PD), zu spüren. «Kriegstreiber PD raus aus der Demo, Italien raus aus der Nato!», forderten in Mailand einige Linksradikale, von denen sich Gianfranco Pagliarulo im Namen der Anpi umgehend distanzierte.
Anhänger:innen Putins waren an der linken Demo aber nicht anzutreffen. Die wahren «Putiniani» befinden sich in Italien allesamt rechts bis rechts aussen, in den neofaschistischen Kleinparteien, die – nicht nur nach Ansicht der Anpi – längst verboten sein müssten. Putins prominentester Sympathisant ist Matteo Salvini. Dessen Lega schloss 2018 ein Kooperationsabkommen mit Putins Partei Einiges Russland. Dass dabei Geld an die Lega geflossen sei, dementierte Salvini: Er halte Putin für einen grossen Staatsmann, er arbeite gratis mit ihm zusammen, sagte er damals. Im Europäischen Parlament wie auch bei einem Fototermin auf dem Roten Platz in Moskau demonstrierte Salvini seine Bewunderung mit einem Putin-T-Shirt. Nun schloss er sich ungewohnt kleinlaut dem Regierungskurs an: Dazu gehört, neben Waffenlieferungen an die Ukraine und der Aufrüstung der italienischen Streitkräfte, die Forderung nach grösserer, auch militärischer Eigenständigkeit der EU.
Die zersplitterte italienische Linke, die all das ablehnt, schöpft unterdessen Hoffnung aus Jean-Luc Mélenchons Achtungserfolg (fast 22 Prozent) in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Das Ergebnis zeige, dass ein klarer Linkskurs von den Wähler:innen honoriert werde, sagte etwa Luigi de Magistris, ein parteiloser Linker. Von 2011 bis 2021 war er Bürgermeister von Neapel, nun wird er in diversen Medien als «italienischer Mélenchon» gehandelt. Er selbst lehnt das Etikett ab und verweist lieber auf die Aktivitäten von unten, die in Italien Fahrt aufgenommen haben: gegen soziale Ausgrenzung und die Klimakrise – und seit neuem auch wieder gegen Militarismus. Ein Anfang für eine Massenbewegung scheint gemacht.