Arbeitskämpfe in Grossbritannien: Streiken, um nicht in die Armut abzustürzen
In diesem Dezember legen so viele Brit:innen wie seit Jahrzehnten nicht mehr die Arbeit nieder – ein weiteres Indiz dafür, dass der Neoliberalismus die Zustimmung der Bevölkerung verliert.
Grossbritannien ist auf dem Weg zurück in die siebziger Jahre. So lautet einstimmig das Fazit in der konservativen britischen Presse. Die Streikwelle, die seit Juni durchs Land rollt und in diesem Dezember auf ihrem bisherigen Höhepunkt angekommen ist, lässt rotköpfige Kolumnist:innen über die «militanten Gewerkschaften» schimpfen, die das Land in die Vergangenheit zurückzerren wollten – in die Zeit, bevor «Margaret Thatcher kam und das Land auf Vordermann brachte», wie die «Daily Mail» vergangene Woche schrieb.
Das Land hat die längste Periode der Lohnstagnation seit über 200 Jahren hinter sich.
Auf der einen Seite ist dies ein ermüdender Refrain, der jedes Mal erklingt, wenn in Grossbritannien ein grösserer Streik ausgerufen wird. Aber andererseits sind die Boulevardschreiberlinge diesmal an etwas dran. Diese Wochen der intensiven Arbeitskämpfe könnten tatsächlich eine Art Zeitenwende markieren: Sie signalisieren, dass die Ideologie, die mit dem Antritt Thatchers 1979 die britische Wirtschaft und die Politik zu prägen begann, im steilen Sinkflug ist. Für manche Konservative mag das wie ein Rückschritt erscheinen, aber für die meisten Brit:innen wäre es schlichtweg Fortschritt – das Versprechen eines Systems, das nicht auf tiefen Löhnen, Privatisierung und Profiten für die Aktionär:innen gründet.
Eine Million Streiktage
Mehrere Hunderttausend Angestellte haben in den vergangenen Wochen die Arbeit niedergelegt, darunter Rettungssanitäterinnen und Pfleger, Postbeamtinnen und Kondukteure, Busfahrerinnen und Stellwerker. Zusammengerechnet dürften es landesweit bis zu eine Million Streiktage innerhalb von vier Wochen sein. Das wäre der grösste Streikmonat seit über dreissig Jahren.
Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ist das zwar eher bescheiden: In den achtziger Jahren gab es mehrere längere und intensivere Streikperioden – und verglichen mit dem «Winter of Discontent» von 1978/79 ist dieser Dezember ein Klacks: Allein im Jahr 1979 wurden dreissig Millionen Streiktage gezählt, und an einem Tag im Januar legten 1,5 Millionen öffentliche Angestellte die Arbeit nieder. Davon ist Grossbritannien heute weit entfernt.
Dennoch ist es ein einschneidender Moment in der Geschichte der britischen Arbeiter:innenbewegung. Sollten die Gewerkschaften, oder auch nur einige von ihnen, gewinnen und eine substanzielle Lohnerhöhung durchsetzen, würde sich das Land auf einmal an eine Tatsache erinnern, die man jahrzehntelang vergessen hatte: Streiks können tatsächlich etwas bewirken.
Spardiät mit dramatischen Folgen
Unmittelbarer Auslöser für die Rebellion der Gewerkschaften ist die Energiekrise, die die Inflation auf über zehn Prozent getrieben und die Preise für Strom und Gas für viele unerschwinglich gemacht hat, gerade in der bitterkalten Vorweihnachtszeit. Aber die Wurzeln gehen tiefer. Denn der jüngste Preisanstieg folgt auf ein Jahrzehnt, während dessen die Löhne für Millionen von Angestellten und Arbeiter:innen bereits stagniert haben oder inflationsbereinigt sogar gesunken sind.
Das liegt vor allem an der «austerity», dem Sparprogramm der konservativen Regierung: Nach der Finanzkrise von 2008 verschrieb Premierminister David Cameron dem Land eine Spardiät, auch dem öffentlichen Sektor, dem Lohnzurückhaltung und Rentenkürzungen auferlegt wurden. Es war eine Krisenbewältigung nach klassisch neoliberaler Art: Die Normalverdiener:innen wurden zur Kasse gebeten, um die Milliardenverluste des Finanzsektors wettzumachen.
Die Folgen waren dramatisch. Manche Pfleger:innen zum Beispiel, so zeigt eine neuere Analyse, verdienen heute inflationsbereinigt zwanzig Prozent weniger als 2010. In anderen Sektoren, sowohl privaten wie auch öffentlichen, sieht es ähnlich aus – Grossbritannien hat die längste Periode der Lohnstagnation seit über 200 Jahren hinter sich. Weitere Einbussen bei den Realeinkommen liegen für viele Brit:innen schlichtweg nicht drin. Die Streiks sind denn auch für viele das letzte Mittel, um nicht in die Armut abzustürzen.
Bezeichnend ist überdies, dass viele der prominentesten Streiks in jenen Sektoren geführt werden, die teilweise oder ganz privatisiert wurden – ein weiteres Erbe der Thatcher-Ideologie. Royal Mail beispielsweise, 500 Jahre lang ein öffentlicher Dienstleister, wurde vor knapp zehn Jahren privatisiert. Letztes Jahr schrieb das Unternehmen einen Profit von über 700 Millionen Pfund, 400 Millionen davon teilte es an die Aktionär:innen aus. Die über 100 000 Pöstler:innen hingegen, die von der Gewerkschaft CWU vertreten werden, sollen mit mickrigen Lohnerhöhungen abgespeist werden. Zudem versucht das Unternehmen, den Angestellten weniger Arbeitsplatzsicherheit sowie eine Kürzung des Krankengelds aufzudrängen – alles Teil eines Versuchs, Royal Mail zu einem «Uber-artigen Gig-Economy-Unternehmen» zu machen, wie CWU-Chef Dave Ward sagt.
Ähnlich verhält es sich mit der Eisenbahn. Der Disput zwischen der Gewerkschaft RMT und den privaten Bahnbetreibergesellschaften läuft seit Juni, es ist der grösste Streik seit der Privatisierung 1993. Auch diese Unternehmen fordern ihre Angestellten auf, den Gürtel enger zu schnallen, während sie ordentliche Profite schreiben. Die grösste Bahngesellschaft in Grossbritannien, First Group, zahlte ihren Aktionär:innen letztes Jahr eine halbe Milliarde Pfund an Dividenden aus, und der CEO steckte ein Lohnpaket von mehr als 800 000 Pfund ein.
Vergesellschaften statt privatisieren
Dabei ist es nicht so, dass die privatisierte Bahn besonders gut funktioniert: Die Bevölkerung klagt mit gutem Grund über verspätete, überteuerte und überfüllte Züge oder solche, die in letzter Minute gestrichen werden. Die Betreibergesellschaft Avanti West Coast zum Beispiel schaffte es im dritten Quartal dieses Jahres, dass gerade mal sechzig Prozent der Züge pünktlich abfuhren. Dennoch wurde sie von der Regierung mit einem «Performancebonus» von vier Millionen Pfund belohnt. Insgesamt zahlt der Staat heute weit mehr an Subventionen als zur Zeit der staatlichen British Rail. «Es ist an der Zeit, zuzugeben, dass das Experiment nicht funktioniert hat», schrieb kürzlich eine Kommentatorin in der «Financial Times». «Die Alternative schaut uns ins Gesicht: Verstaatlichung.»
Da ist sich das Hausblatt des Finanzsektors einig mit der Transportgewerkschaft RMT, die seit Jahren für eine Vergesellschaftung plädiert. So sieht es auch ein grosser Teil der Bevölkerung: Eine Umfrage im Sommer ergab, dass eine satte Mehrheit von 67 Prozent der Brit:innen eine öffentliche Bahn bevorzugen würde. Das gilt auch für viele der anderen Privatisierungsprojekte, die in den vergangenen vierzig Jahren durchgesetzt wurden: Royal Mail, Wasserversorgung, Busse sowie Gas- und Stromversorgung – die Rücknahme in staatliche Hände hätte mittlerweile die überwältigende Unterstützung der Öffentlichkeit.
Solche Entwicklungen scheinen jedoch völlig an der Tory-Regierung vorbeizugehen. Hartnäckig klammert sie sich an den Säulen des Neoliberalismus fest, und dazu gehört die Konfrontation mit den Gewerkschaften. Dabei vergisst sie, dass ihr Idol Margaret Thatcher zuweilen durchaus pragmatisch vorging. 1979, als sie nach der grössten Streikwelle der Nachkriegszeit in der Downing Street einzog, lag ihr viel daran, eine weitere Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften vorerst zu vermeiden. So verfügte sie eine Lohnerhöhung von 25 Prozent für den öffentlichen Sektor – deutlich über der Inflation.